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Ein derartiges Gespräch, das für niemand Interesse hatte, aber sich doch nicht vermeiden ließ, wurde während der ganzen Zeit des Teetrinkens geführt. Um den runden Tisch mit dem Samowar, bei welchem Sonja saß, hatten sich alle erwachsenen Mitglieder der Familie versammelt. Die Kinder, ihre Erzieher und Gouvernanten waren schon mit dem Teetrinken fertig, und ihre Stimmen klangen aus dem anstoßenden Zimmer herüber. Beim Tee saßen alle auf ihren gewohnten Plätzen: Nikolai hatte sich beim Ofen an einem kleinen Tischchen niedergelassen, wohin ihm sein Tee gebracht wurde. Die alte Jagdhündin Milka, eine Tochter der ersten Milka, mit vollständig ergrautem Gesicht, aus dem die großen, schwarzen Augen noch schärfer hervortraten, lag auf einem Stuhl neben ihm. Denisow, dessen krauses Kopfhaar, Schnurrbart und Backenbart schon zur Hälfte grau geworden waren, saß in seinem aufgeknöpften Generalsrock neben Gräfin Marja. Pierre saß zwischen seiner Frau und der alten Gräfin. Er erzählte allerlei Dinge, von denen er wußte, daß sie die alte Dame interessieren konnten und ihr verständlich waren. Er sprach von äußerlichen Ereignissen in der Gesellschaft und von Leuten, die ehemals den Kreis der Altersgenossen der alten Gräfin gebildet hatten, Leute, die ehemals ein wirklicher, lebendiger, besonderer Kreis gewesen waren, die aber jetzt, größtenteils in der Welt zerstreut, ebenso wie die alte Gräfin, ihren Lebensrest mit einer Ährenlese von dem, was sie im Leben gesät hatten, hinbrachten. Aber gerade diese Leute, ihre Altersgenossen, und nur sie, erschienen der alten Gräfin als die wahre und wirkliche Welt. An Pierres Lebhaftigkeit merkte Natascha, daß seine Reise interessant gewesen war und er Lust hatte, viel zu erzählen, aber in Gegenwart der Gräfin nicht zu reden wagte. Denisow, der kein Mitglied der Familie war und darum für Pierres Vorsicht kein Verständnis besaß, außerdem aber, als Mißvergnügter, sich sehr für die Vorgänge in Petersburg interessierte, suchte Pierre fortwährend zu allerlei Mitteilungen zu veranlassen, bald über die Geschichte mit dem Semjonower Regiment, die sich soeben zugetragen hatte, bald über Araktschejew, bald über die Bibelgesellschaft. Manchmal ließ sich Pierre hinreißen und begann zu erzählen; aber jedesmal lenkten Nikolai und Natascha ihn wieder zurück zu Berichten über das Befinden des Fürsten Iwan und der Gräfin Marja Antonowna.

»Na, wie steht es denn? Dauert denn dieser ganze Unfug mit Goßner und der Frau Tatarinowa immer noch fort?« fragte Denisow.

»Ob er noch fortdauert?« rief Pierre. »Er steht in vollerer Blüte als jemals. Die Bibelgesellschaft hat jetzt die ganze Regierungsgewalt in Händen!«

»Was soll das heißen, lieber Freund?« fragte die Gräfin, die mit ihrem Tee fertig war und nun augenscheinlich einen Anlaß suchte, um sich nach dem Imbiß ein wenig zu ärgern. »Was sagst du da: die Regierungsgewalt? Das verstehe ich nicht.«

»Ja, wissen Sie, Mama«, mischte sich Nikolai hinein, welcher wußte, wie man so etwas in die Sprache der Mutter übersetzen mußte, »da hat Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn eine Gesellschaft gegründet und besitzt dadurch einen großen Einfluß, wie man sagt.«

»Araktschejew und Golizyn«, sagte Pierre unvorsichtig, »die stellen jetzt die ganze Regierung dar. Eine nette Regierung! Überall sieht sie Verschwörung, vor allem und jedem hat sie Furcht.«

»Wie? Dem Fürsten Alexander Nikolajewitsch soll etwas vorzuwerfen sein? Das ist ein höchst achtungswerter Mann. Ich bin ihm damals bei Marja Antonowna begegnet«, sagte die Gräfin in einem Ton, als ob sie sich beleidigt fühlte; und noch mehr beleidigt dadurch, daß alle schwiegen, fuhr sie fort: »Heutzutage ist es Mode geworden, einen jeden zu kritisieren. Eine christliche Gesellschaft, was ist daran Schlechtes?« Damit stand sie auf (alle andern erhoben sich gleichfalls) und schritt mit strenger Miene in das Sofazimmer zu ihrem Tisch.

In das peinliche Schweigen, das hierauf eingetreten war, tönten aus dem Nachbarzimmer das Gelächter und die munteren Reden der Kinder herein. Offenbar befanden sich die Kinder in einer besonderen freudigen Erregung.

»Fertig, fertig!« hörte man aus allen Stimmen heraus das lustige Kreischen der kleinen Natascha.

Pierre wechselte mit Gräfin Marja und Nikolai einen Blick (seine Frau sah er fortwährend an) und lächelte glückselig.

»Das ist eine prächtige Musik!« sagte er.

»Da wird wohl Anna Makarowna mit einem Strumpf fertiggeworden sein«, bemerkte Gräfin Marja.

»Ach, da geh ich hin und seh zu«, rief Pierre, indem er aufsprang. »Weißt du«, sagte er, an der Tür stehenbleibend, zu seiner Frau, »warum ich diese Musik so besonders gern habe? Das ist das erste, woraus ich ersehe, daß alles gut steht. Da kam ich also heute an, und je näher ich dem Haus kam, um so größer wurde meine Beklommenheit. Als ich in das Vorzimmer kam, hörte ich, wie der kleine Andrei über irgend etwas aus vollem Hals lachte; na also, da wußte ich, daß alles in Ordnung war …«

»Ich kenne dieses Gefühl, ich kenne es«, bestätigte Nikolai. »Aber ich für meine Person darf nicht hineingehen; denn die Strümpfe werden ja ein Geschenk, mit dem ich überrascht werden soll.«

Pierre ging zu den Kindern, und das Lachen und Schreien wurde noch stärker.

»Nun, Anna Makarowna«, hörte man Pierre sagen, »stellen Sie sich hier in die Mitte, und dann werde ich kommandieren: eins, zwei, und wenn ich sage: drei … Du, stell du dich hierher! Warte, du kriegst auf die Hände! Nun, eins, zwei …«, rief Pierre; es war ganz still geworden. »Drei!« Und ein entzücktes Durcheinanderschreien der Kinderstimmen erhob sich in dem Zimmer. »Zwei, zwei Strümpfe!« riefen die Kinder.

Die Kinderfrau Anna Makarowna pflegte nach einer ihr bekannten geheimen Methode immer zwei Strümpfe zugleich zu stricken und, wenn sie fertig waren, in Gegenwart der Kinder einen aus dem andern herauszuziehen.

XIV

Bald darauf kamen die Kinder, um gute Nacht zu sagen. Nachdem die Kinder jedem einen Kuß gegeben, die Erzieher und Gouvernanten sich verbeugt hatten, verließen sie das Zimmer. Nur Dessalles und sein Zögling blieben zurück. Der Erzieher forderte seinen Zögling flüsternd auf, mit nach unten zu kommen.

»Nein, Monsieur Dessalles, ich möchte meine Tante um die Erlaubnis bitten, noch bleiben zu dürfen«, antwortete Nikolenka Bolkonski, gleichfalls flüsternd.

»Liebe Tante«, sagte der Knabe, indem er zu Gräfin Marja hintrat, »erlauben Sie mir, noch hierzubleiben.«

Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck inständiger Bitte und schwärmerischer Erregung. Gräfin Maria sah ihn an und wandte sich zu Pierre.

»Wenn Sie hier sind, kann er sich immer gar nicht losreißen«, sagte sie zu ihm.

»Ich werde ihn Ihnen sogleich nach unten bringen, Monsieur Dessalles. Gute Nacht!« sagte Pierre, reichte dem Schweizer die Hand und wandte sich lächelnd an den Knaben: »Wir beide haben einander noch gar nicht recht gesehen. Marja, wie ähnlich er wird«, fügte er, zu Gräfin Marja gewendet, hinzu.

»Dem Vater?« fragte der Knabe, der dunkelrot geworden war und Pierre von unten herauf mit begeisterten, glänzenden Augen anblickte.

Pierre nickte ihm zu und fuhr in der Erzählung fort, die die Kinder vorhin unterbrochen hatten. Gräfin Marja arbeitete an einer Kanevasstickerei; Natascha blickte ihren Mann an, ohne ein Auge von ihm abzuwenden. Nikolai und Denisow standen auf, forderten Pfeifen, rauchten, ließen sich Tee von Sonja geben, die demütig und geduldig beim Samowar saß, und fragten Pierre aus. Der lockige, kränkliche Knabe mit seinen glänzenden Augen saß, von niemand beachtet, in einem Winkel; er wandte seinen lockigen Kopf auf dem schlanken Hals, der aus dem zurückgeschlagenen Hemdkragen hervorkam, nach der Seite hin, wo Pierre saß, zuckte mitunter zusammen und flüsterte etwas vor sich hin: offenbar befand er sich in dem Bann einer neuen, starken Empfindung.

Das Gespräch drehte sich um jenen Klatsch über die derzeitigen höchsten Persönlichkeiten der Regierung, in welchem die meisten Menschen das wichtigste Interesse der inneren Politik sehen. Denisow, der wegen des Mißerfolges in seiner dienstlichen Laufbahn mit der Regierung unzufrieden war, hörte mit Vergnügen von all den Dummheiten, die seiner Meinung nach jetzt in Petersburg begangen wurden, und machte zu Pierres Mitteilungen in starken, scharfen Ausdrücken seine Bemerkungen.