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»So kam er also nicht weiter als bis zu ›Sergej Kusmitsch‹?« fragte eine Dame.

»Ja, ja, nicht um ein Haar«, erwiderte lachend Fürst Wassilij »›Sergej Kusmitsch … von allen Seiten … von allen Seiten … Sergej Kusmitsch …‹ Der arme Wjasmitinow kam einfach nicht weiter. Ein paarmal fing er den Brief immer wieder von vorne an, aber kaum hatte er ›Sergej‹ gesagt, da schluchzte er schon ›Kusmitsch‹, da kamen ihm die Tränen, und ›von allen Seiten‹ wurde schon ganz von Schluchzen erstickt, und weiter kam er einfach nicht. Dann zog er das Taschentuch, fing noch einmal an: ›Sergej Kusmitsch, von allen Seiten‹, und wieder brach er in Tränen aus, so daß endlich ein anderer das Reskript vorlesen mußte.«

»Kusmitsch … von allen Seiten … und dann wieder Tränen …« wiederholte einer der Gäste lachend.

»Seien Sie nicht so boshaft!« rief Anna Pawlowna vom anderen Ende der Tafel und drohte ihm mit dem Finger. »C’est un si brave et excellent homme, notre bon Viasmitinoff …«

Alle lachten. Auch oben, auf den Ehrenplätzen, waren alle heiter und schienen unter dem Einfluß der verschiedenartigsten belebenden Eindrücke zu stehen. Nur Pierre und Helene, fast am unteren Ende des Tisches, saßen schweigend nebeneinander, aber auf den Gesichtern beider lag ein verhaltenes, strahlendes Lächeln, das nichts mit Sergej Kusmitsch zu tun hatte, ein scheues, verschämtes Lächeln über ihre eignen Gefühle. Und was die anderen auch sprechen, wie sie auch lachen und scherzen mochten, mit welch großem Appetit sie auch den Rheinwein schlürfen und das Sauté und das Gefrorene verspeisen mochten, und wenn sie auch das Paar mit ihren Blicken mieden und ihm gegenüber gleichgültig schienen, so fühlte man doch aus irgendeinem Grund und aus den Blicken, die ab und zu die beiden streiften, daß sowohl die Anekdote von Sergej Kusmitsch als auch das Lachen und das Schmausen alles nur Verstellung war, und daß die Aufmerksamkeit aller mit ihrer ganzen Kraft nur diesem Paar, nur Pierre und Helene, galt. Und während Fürst Wassilij mimisch darstellte, wie Sergej Kusmitsch geschluchzt hatte, streifte er mit einem Blick seine Tochter, und hinter seinem Lachen war auf seinem Gesicht zu lesen: Schön, schön; alles geht gut; heute wird es sich entscheiden. Anna Pawlowna drohte ihm mit dem Finger wegen notre bon Viasmitinoff, doch Fürst Wassilij las in ihren Augen, die blitzschnell über Pierre hingehuscht waren, einen Glückwunsch zu dem künftigen Schwiegersohn und zum Glück seiner Tochter. Und während die alte Fürstin ihrer Nachbarin seufzend Wein anbot und dabei ihrer Tochter einen ärgerlichen Blick zuwarf, schien sie mit diesem Seufzer sagen zu wollen: Ja, ja, meine Liebe, uns bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als süßen Wein zu trinken, jetzt ist für die Jugend da die Zeit gekommen, so dreist herausfordernd glücklich zu sein. Und ein Diplomat dachte, als er auf die glücklichen Gesichter der Liebenden sah: Wie dumm ist doch das alles, was ich hier erzähle, und dabei muß ich tun, als ob es mich lebhaft interessierte. Das allein ist das Glück!

Mitten zwischen den nichtigen, kleinlichen, künstlichen Interessen, die diese Gesellschaft zusammenhielten, war plötzlich das schlichte Gefühl des Begehrens von Mann und Weib bei zwei schönen, gesunden Menschen aufgetaucht. Und dieses natürlichste aller Gefühle erdrückte alles andere und schwebte siegreich über dem künstlichen Geplapper der übrigen. Die Scherze erschienen fade, die Neuigkeiten uninteressant, die lebhafte Unterhaltung sichtlich erkünstelt. Aber nicht nur die Gäste, auch die Lakaien, die bei Tische bedienten, schienen das zu fühlen und machten ab und zu einen Fehler beim Servieren, wenn sie das strahlende Gesicht der schönen Helene oder den dicken, glücklichverwirrten Pierre ansahen. Selbst das Licht der Kerzen schien sich nur auf diese beiden glücklichen Gesichter zu konzentrieren.

Pierre fühlte, daß er Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft war, und diese Empfindung freute und peinigte ihn zugleich. Er befand sich im Zustand eines Menschen, der in irgend etwas ganz vertieft ist. Nichts hörte, sah und verstand er deutlich. Nur ab und zu tauchten plötzlich abgerissene Gedanken und Eindrücke aus der Wirklichkeit vor seiner Seele auf.

So ist also nun alles im reinen! dachte er. Wie hat das alles nur so kommen können? So schnell! Jetzt weiß ich, daß weder ihretwegen noch meinetwegen, sondern um aller willen dies unwiderruflich so geschehen muß. Sie warten alle dermaßen darauf, sind alle so davon überzeugt, daß es so kommen wird, daß ich sie unmöglich, unmöglich enttäuschen kann. Aber wie wird es geschehen? Ich weiß es nicht, doch geschehen wird es unbedingt, unbedingt! dachte Pierre und warf einen Blick auf ihre Schultern, die dicht vor seinen Augen glänzten.

Plötzlich fing er an, sich aus irgendeinem Grund zu schämen. Es war ihm peinlich, daß er allein die Aufmerksamkeit aller erregte, in ihren Augen ein Glückspilz und mit seinem wenig hübschen Gesicht eine Art Paris war, der eine Helena errang[73].

Aber gewiß pflegt das immer so zu sein und muß vielleicht auch so sein, tröstete er sich. Und übrigens, was habe ich denn dazu getan? Wann hat das angefangen? Ich bin mit dem Fürsten Wassilij zusammen aus Moskau hierhergefahren. Damals war noch nichts los. Und dann, warum sollte ich nicht bei ihm wohnen bleiben? Später habe ich mit ihr Karten gespielt und ihr das Ridikül aufgehoben, bin auch mit ihr ausgeritten. Wann hat das nur angefangen, wann hat das alles nur geschehen können? Nun saß er als Bräutigam neben ihr, hörte, sah und fühlte ihre Nähe, ihren Atem, ihre Bewegungen, ihre Schönheit. Plötzlich schien es ihm, daß nicht sie, sondern er so außerordentlich schön sei, und daß ihn deshalb alle ansähen, und glücklich über die allgemeine Bewunderung, warf er sich in die Brust, reckte den Kopf hoch und freute sich über sein Gluck. Da ertönte eine Stimme, eine ihm bekannte Stimme, und sagte ihm etwas schon zum zweitenmal. Doch Pierre war so beschäftigt, daß er gar nicht verstand, was man zu ihm sagte.

»Ich frage dich, wann du den Brief von Bolkonskij erhalten hast«, wiederholte Fürst Wassilij nun zum drittenmal. »Wie zerstreut du bist, mein Lieber!«

Fürst Wassilij lächelte, und Pierre sah, daß alle, alle ihm und Helene zulächelten. Nun, was ist dabei, wenn ihr es alle schon wißt? sagte Pierre zu sich selber. Was ist dabei, es ist ja doch wahr, und er lächelte selber mit seinem sanften Kinderlächeln, und auch Helene lächelte.

»Wann hast du ihn erhalten? Aus Olmütz?« wiederholte Fürst Wassilij, der das wissen wollte, um eine Streitfrage zu entscheiden.

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73

eine Art Paris war, der eine Helena errang: die Entführung von Helena, der Frau von König Menelaos, durch den troischen Königssohn Paris nach Troja löste den Trojanischen Krieg aus.