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In den Augenblicken forschender Selbstüberprüfung hatte er sich gezwungen, sich alle Situationen vorzustellen, die sie zusammen erleben mußten. In seiner Phantasie hatte er gesehen, wie sie zusammen einen belebten Raum betraten. Er jung, kraftvoll, unbehindert, aber Vivian an seinem Arm ging langsam, unbeholfen, vielleicht mit einem Stock, und so gut, wie es ein künstliches Bein erlaubte. Er hatte sich selbst in der Brandung tauchen oder fast nackt am Strand in der Sonne liegen sehen, während Vivian voll angezogen blieb und das alles nicht teilen konnte, weil die Prothese einen häßlichen Anblick bot und sie, wenn sie sie abnahm, ein groteskes, unbewegliches Monstrum sein mußte - ein Objekt des Mitleids oder abgewendeter Blicke.

Und mehr als das. Er überwand jede Hemmung und jeden instinktiven Anstand und hatte sich die sexuelle Seite vorgestellt. Er hatte sich ein Bild der Szene am Abend vor dem Zubettgehen gemacht. Würde Vivian ihr künstliches Bein selbst abschnallen, oder würde er ihr dabei helfen? Konnte die Intimität des Auskleidens eintreten, des Wissens, was anschließend kam? Und wie würden sie lieben? Mit dem Bein angeschnallt oder nicht? Wie mußte es sein, wenn es angeschnallt blieb? Der harte, unnachgiebige Kunststoff, der an seinen begehrenden Körper drückte. Und wenn es abgeschnallt war, wie würde sich der Stumpf unter ihm anfühlen? Konnte es Erfüllung geben in der Vereinigung mit einem Körper, der nicht länger ganz war?

Mike Seddons brach der Schweiß aus. Er war in die Tiefe eingedrungen und hatte seine geheimsten Empfindungen aufgedeckt.

Vivian sagte: »Du brauchst es nicht zu erklären, Mike.« Diesmal klang ihre Stimme gepreßt.

»Aber ich will es, ich muß es erklären. Es gibt so vieles, an das wir beide denken müssen.« Jetzt kamen die Worte schnell, überstürzten sich in dem Bemühen, sich Vivian verständlich zu machen, ihr die Qualen zu schildern, die er in Gedanken durchlitten hatte, ehe er zu ihr kam. Selbst in diesem Augenblick brauchte er ihr Verständnis.

Er begann wieder: »Verstehe mich doch, Vivian. Ich habe darüber nachgedacht, und es ist für dich besser.«

Er sah ihren musternden Blick. Es war ihm bisher nicht aufgefallen, wie fest und gerade er war. »Lüge mich bitte nicht an, Mike«, sagte sie, »ich glaube, du gehst besser.«

Er wußte, es war nutzlos. Jetzt wollte er nur noch von ihr fort, nicht mehr Vivians Augen sehen. Aber er zögerte noch. Er fragte: »Was wirst du tun?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe tatsächlich noch nicht darüber nachgedacht.« Vivians Stimme klang fest, aber sie verriet die Mühe, die es sie kostete. »Vielleicht bleibe ich weiter Schwester, wenn sie mich haben wollen. Ich weiß natürlich nicht, ob ich wirklich geheilt bin, und wenn nicht, wie lange ich dann noch habe. So ist es doch, Mike?«

Verlegen und beschämt wendete er seine Augen ab.

Von der Tür sah er zum letztenmal zu ihr zurück. »Leb wohl, Vivian«, sagte er.

Sie versuchte zu antworten, aber das überforderte ihre Selbstbeherrschung.

Von der zweiten Etage ging Mike Seddons über die Treppe zur Pathologie hinunter. Er betrat den Obduktionsraum und fand im Nebenzimmer David Coleman, der ein Bein sezierte. Seddons blickte auf das Bein. Es war weiß und leblos, und dunkles Blut sickerte aus Colemans Messerschnitten. Einen Augenblick stellte er es sich voller Grauen von einem Nylonstrumpf bekleidet vor, mit einer hochhackigen Sandale. Dann folgte er einem entsetzlichen Zwang. Er trat näher und las den Namen auf der offenliegenden Krankengeschichte.

Als er das getan hatte, ging er schnell in den Gang hinaus und übergab sich.

»Ah, Dr. Coleman, kommen Sie bitte herein.«

Kent O'Donnell stand liebenswürdig von seinem Schreibtisch auf, als der junge Pathologe in sein Zimmer trat. David Coleman war gerade dabeigewesen, nach der Sektion aufzuräumen, als ihn die Benachrichtigung des Chefs der Chirurgie erreicht hatte.

»Nehmen Sie bitte Platz.« O'Donnell hielt ihm sein graviertes, goldenes Zigarettenetui hin: »Zigarette?«

»Danke.« Coleman nahm eine Zigarette und das Feuer, das O'Donnell ihm anbot. Er lehnte sich erwartungsvoll in dem tiefen Ledersessel zurück. Sein Gefühl sagte ihm, daß er vor einem Wendepunkt in seinem Leben stand.

O'Donnell trat hinter dem Schreibtisch zum Fenster, blieb, den Rücken der Morgensonne hinter sich zugewendet, stehen. »Ich nehme an, Sie wissen schon, daß Dr. Pearson zurückgetreten ist«, begann er.

»Ja, ich habe es gehört«, antwortete Coleman ruhig und fuhr zu seiner eigenen Überraschung fort: »Es ist Ihnen natürlich bekannt, daß er sich in den letzten Tagen nicht geschont hat. Er war Tag und Nacht hier.«

»Ja, das weiß ich.« O'Donnell betrachtete das glimmende Ende seiner Zigarette. »Aber das ändert nichts an der Situation. Das ist Ihnen doch klar?«

Coleman wußte, daß der Chef der Chirurgie recht hatte. »Ja«, antwortete er, »das ist wohl richtig.«

»Joe hat den Wunsch ausgesprochen, sofort auszuscheiden«, fuhr O'Donnell fort. »Das bedeutet, daß bei uns sofort die Stelle des Direktors der Pathologie frei wird. Wollen Sie sie übernehmen?«

Eine Sekunde lang zögerte David Coleman. Das war das, was er suchte. Eine Abteilung für sich, die Freiheit, sie zu reorganisieren, die neuen Hilfsmittel der Wissenschaft heranzuziehen, gute Medizin zu praktizieren und die Pathologie den Beitrag leisten zu lassen, den sie bieten konnte. Das war der Gral, nach dem er strebte. Kent O'Donnell hatte ihn greifbar vor ihn hingestellt.

Dann überfiel ihn Angst. Plötzlich schreckte er vor der überwältigenden Verantwortung zurück, die er zu tragen hatte. Er erkannte, daß er keinen Vorgesetzten haben würde, der ihm Entscheidungen abnahm. Das endgültige Urteil - die letzte Diagnose würde bei ihm liegen. War er dem gewachsen? War er dazu schon bereit? Er war noch jung. Wenn er wollte, konnte er noch einige Jahre an zweiter Stelle bleiben. Später würden sich ihm noch andere Möglichkeiten öffnen, viele im Laufe der Jahre. Dann wurde ihm bewußt, daß es hier kein Ausweichen gab, daß dieser Augenblick von der ersten Stunde seiner Ankunft im Three Counties Hospital an unaufhaltsam auf ihn zugekommen war.

»Ja«, sagte er, »wenn mir die Stellung angeboten wird, werde ich annehmen.«

»Ich kann Ihnen versichern, daß sie Ihnen angeboten werden wird.« O'Donnell lächelte. Er fragte: »Würden Sie mir eine Frage erlauben?«

»Gewiß, wenn ich sie beantworten kann.«

Der Chef der Chirurgie schwieg. Er suchte nach den richtigen Worten für die Frage, die er stellen wollte. Er spürte, daß das, was jetzt gesagt wurde, für sie beide wichtig war. Schließlich sagte er: »Würden Sie mir Ihre Einstellung erklären - gegenüber der Medizin und gegenüber unserem Krankenhaus?«

»Das ist schwer in Worte zu fassen«, antwortete Coleman.

»Wollen Sie es nicht versuchen?«

Coleman überlegte. Es gab Dinge, an die er glaubte. Aber selbst in seinen Gedanken hatte er nur selten versucht, sie zu formulieren. Jetzt war vielleicht die Zeit gekommen, um sie auszusprechen.

»Worauf es wirklich ankommt ist, glaube ich, daß alles - wir Ärzte, das Krankenhaus, die praktische Medizin - nur für einen Zweck existiert: für die Patienten - um Kranke zu heilen. Ich glaube, das vergessen wir manchmal. Mir scheint, wir versenken uns in die Medizin, verlieren uns in der Wissenschaft, streben nach besseren Krankenhäusern, vergessen darüber aber, daß es für alle diese Dinge nur eine Rechtfertigung gibt - Menschen. Menschen, die uns brauchen, die bei der Medizin Hilfe suchen« Er schwieg. »Ich habe es sehr plump ausgedrückt.«