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Scheintherapie abzuspeisen. Offenbar ist es aber ethisch unbedenklich, schwer leidende Patienten mit

unüberprüften Maßnahmen abzuspeisen.

Es gibt in der Psychotherapeutenszene viele rhetorische und den Laien verwirrende Abhandlungen

darüber, warum doppelblinde Kontrollen undurchführbar seien. So wird oft argumentiert, dass eine

Psychotherapie ja niemals im wahren Sinne» doppelblind «sein könne, weil zumindest der Therapeut

selbst immer genau wisse, ob er eine» richtige «Therapie oder eine» Attrappenversion «durchführt. Doch

man lässt sich nicht einmal dazu herab, wenigstens halb blinde Kontrollen einzubauen (der Klient erhält

ein Placebo, aber der Heiler weiß Bescheid). Dabei wäre es doch das Einfachste, einem zufällig

ausgewählten Teil der Klienten unter dem Vorwand, es handele sich um eine hochwirksame

Psychomedizin, eine wirkstofflose Zuckerpille zu verabreichen, so wie in der Allgemeinmedizin üblich,

empfiehlt der Psychiatrie-Professor Donald F. Klein. Falls das psychotherapeutische Verfahren überlegen

wäre, hätte es den schlagenden Beweis für seine spezifische Wirksamkeit erbracht.»Es gibt überhaupt

keinen nachvollziehbaren Grund«, wundert sich der Psychiatrie-Professor,»warum die Psychotherapie

von diesem Qualitätsstandard befreit sein soll.«

Tatsache ist jedoch, dass einige kritische und findige Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten trotz

aller Unkenrufe bei verschiedenen Gelegenheiten die Wirksamkeit der Psychotherapie und die einer

Scheinbehandlung verglichen haben. Ihre Ergebnisse entziehen der gesellschaftlichen Institution

Psychotherapie den Boden.»Zahlreiche Wissenschaftler vertreten heute die Auffassung, dass die

unspezifischen Effekte der Psychotherapie die spezifisch wirksamen bei weitem übertreffen«, erklärt das

Forscherehepaar Arthur K. und Elaine Shapiro in der aktuellen Standardmonographie über die Placebo-

Forschung.26»Bei mehr als 600 Studien zur Wirksamkeit der Psychotherapie und etwa 230 Studien zur

Wirksamkeit der Psychotherapie bei Kindern, einige davon kontrolliert, bleibt nur eine Folgerung übrig:

Die Psychotherapie ist das größte Placebo des Jahrhunderts. «Der Psychologe Terence W. Campbell zieht

aus der Forschungsliteratur den gleichen radikalen Schluss:»Wegen des Placebo-Effektes genießt die

Psychotherapie den Anschein, wirksam zu sein. Doch in Wirklichkeit sind die verschiedenen

Behandlungstechniken lediglich Rituale, die eine geeignete Atmosphäre für das Auftreten von Placebo-

Wirkungen schaffen. «Und auch die Forschergruppe um die Psychologin Karen Tallman schlägt in

dieselbe Kerbe:»Die Bedeutung des Placebo-Effektes in der Psychotherapie darf nicht mehr länger

vernachlässigt werden. Statt ihn zu ignorieren, sollte man alles daransetzen, seine Macht zu verstehen und

zu Gunsten des Patienten zu mobilisieren.«

Die besten überhaupt verfügbaren Informationen über den Stellenwert des Placebo-Effektes in der

Psychotherapie gehen auf eine statistische Gesamtschau (Metaanalyse) der Forschergruppe um Leslie

Prioleau zurück.18 Die Psychologen haben die Daten aus allen 32 auffindbaren Studien zusammengestellt,

in denen sich ein psychotherapeutisches Verfahren dem Vergleich mit einer unspezifischen

Scheinbehandlung stellen musste. Das Placebo bestand in einigen Fällen schlicht in einer banalen

Zuckerpille, die als neu entwickeltes Medikament beschrieben wurde. In anderen Fällen wurden die

Klienten von angeblichen» Psychotherapeuten «behandelt, die instruiert worden waren, mit ihnen über

alle erdenklichen Themen, nur nicht über ihre Störimg zu sprechen. Ein solches Vorgehen wird von keiner

Schulrichtung als wirksame Therapie anerkannt. Manchmal unterzogen sich die Klienten auch nur

Lockerungs-Übungen für die Muskeln, sie hörten Schallplatten oder wurden über hygienisches Verhalten

aufgeklärt. Kontrollierte Studien in der Psychotherapie sind also offenbar durchaus machbar, wenn man

deren Ergebnisse nicht scheut.

«Die Ergebnisse liefern keine Hinweise darauf, dass die Psychotherapie wirksamer ist als eine

Scheinbehandlung. «Der Placebo-Effekt war durchgehend genauso stark wie der Effekt der» richtigen«

Therapien. Die Wirkung der Scheinbehandlung hielt auch genauso lange an wie der Therapieeffekt. Wenn

Psychotherapien einen Effekt besäßen, der über den Placebo-Effekt hinausginge, hätte man diesen an

seiner größeren Dauerhaftigkeit erkennen müssen, schließen die Wissenschaftler. Mit einem Placebo

«therapierte «Klienten waren nicht nur ihren eigenen Worten zufolge genauso gut» drauf «wie die

Empfänger einer veritablen Behandlung. Ihre Besserung spiegelte sich auch in den Aussagen der

befragten Freunde und Verwandten wider.»Wann immer man Psychotherapie mit einer echten

Kontrollgruppe vergleicht, geht es den Klienten in der Kontrollgruppe genauso gut wie jenen in der

Therapie«, bestätigt der Psychologie-Professor K. Edward Renner von der University of Illinois.5

Die Gruppe um Prioleau fand bei ihrer Durchsicht der Literatur» nicht eine einzige Studie, die

überzeugend demonstriert hätte, dass die Wirksamkeit einer Psychotherapie den Placebo-Effekt

übersteigt«. Das Team hat sich daher dazu verpflichtet, seine niederschmetternde Feststellung öffentlich

zurückzuziehen, sobald ein überzeugender Gegenbeweis gelingt. Die Verpflichtung musste bis heute nicht

eingehalten werden.

Der legendäre Psychologe Hans Jürgen Eysenck sah sich in einem Kommentar zu dieser Metaanalyse

genötigt, harsche Kritik am Verhalten der Psychotherapeuten zu üben.»Es ist außerordentlich bedauerlich

für das Fach Psychologie als Wissenschaft, dass die praktizierenden Kliniker den negativen Ergebnissen

all dieser Untersuchungen aus den letzten Jahrzehnten keinerlei Beachtung schenken werden. Sie werden

unbekümmert fortfahren, Behandlungstechniken anzuwenden, von denen nachgewiesen ist, dass sie nicht

besser sind als der Placebo-Effekt. Es ist auch schwer einzusehen, wie dieses Verhalten mit den ethischen

Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft zu vereinbaren ist. Haben wir wirklich das Recht,

Psychologen und Mediziner einer langen Ausbildung zu unterwerfen, bei der sie Methoden lernen, die bei

der Behandlung seelischer Störungen keinen Nutzen bringen? Haben wir das Recht, den Patienten oder

dem Sozialstaat Kosten für eine Behandlung aufzubürden, die den Placebo-Effekt nicht übersteigt?«

Sigmund Freud hatte dieses Debakel übrigens bereits 1933 in einem lichten Augenblick

vorausgesehen:»Da möchte ich sagen, ich glaube nicht, dass unsere Heilerfolge es mit denen von

Lourdes aufnehmen können. Es gibt so viel mehr Menschen, die an die Wunder der heiligen Jungfrau als

die an die Existenz des Unbewussten glauben.«27 Mehr als fünfzig Jahre nach dieser Äußerung» gibt es

noch immer keine schlüssigen Beweise dafür, dass die Psychoanalyse als therapeutisches Verfahren dem

Gesundbeten überlegen wäre«, hebt der angesehene amerikanische Wissenschaftspublizist John Horgan

hervor.28

Aber auch die Verhaltenstherapie, die auf den ursprünglich an Tieren erforschten Gesetzen des

Lernens basiert, und ihre neuere Variante, die» kognitive Verhaltenstherapie«, welche außer dem

Verhalten auch die gelernten Denkmuster berücksichtigt, stehen im Licht der Placebo-Forschung