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Klienten auf der Warteliste ihre Erwartungen zurückschrauben und vielleicht sogar demoralisiert werden,

weil ihre Hoffnungen nicht aufgegangen sind.«

Auch eine Forschergruppe um den Psychologen Leslie Prioleau von der Wesleyan University in

Middletown verurteilt das Testverfahren, von dem die gesamte Reputation der modernen Psychotherapie

im Wesentlichen abhängt, in Bausch und Bogen.18»Individuen, die sich nach einer Therapie sehnen und

dann in eine Warteliste eingetragen werden, erleben eine Enttäuschung. Es besteht sogar die Gefahr, dass

diese Ablehnung schädliche Effekte hervorruft. Die Mitteilung, dass sie sich mit dem Eintrag in eine

Warteliste abfinden müssen, sagt ihnen nämlich im Grunde, dass sie sich keine Hoffnung auf Besserung

machen dürfen, weil man ihnen keine Behandlung angedeihen lässt.«

Es gibt tatsächlich eindrucksvolle Beweise dafür, dass allein der symbolische Akt, in eine

Psychotherapie aufgenommen zu werden, viele Beschwerden abklingen lässt, betont der amerikanische

Sozialpsychologe C. R. Snyder.19»Die Forschungsarbeiten zeigen mit überwältigender Deutlichkeit, dass

ein erheblicher Anteil der Verbesserungen in den ersten Wochen nach Beginn einer Therapie eintritt.

Solche dramatischen Wirkungen ganz früh in einer Behandlung können unmöglich auf spezifische

therapeutische Maßnahmen zurückzuführen sein. Zu diesem Zeitpunkt können die Klienten die aktiven

Mechanismen einer Therapie noch gar nicht übernommen haben. «Schlussfolgerung Snyders: Die

Aufnahme in eine Therapie stößt bei den Klienten das außerordentlich wirksame Prinzip Hoffnung an.

Jeder kennt den Effekt, dass Kopf- oder Zahnschmerzen schon in dem Augenblick etwas besser werden,

in dem man eine Schmerztablette einnimmt — lange bevor der pharmakologische Effekt einsetzt.

Die meisten Veröffentlichungen zur Psychotherapie, moniert Snyder, glorifizieren den Beitrag, den der

Therapeut zur Heilung leistet. Die Eigenbeteiligung des Klienten und das Prinzip Hoffnung werden

dagegen verächtlich unter den Teppich gekehrt. Der Beweis, dass Psychotherapie besser ist als keine

Psychotherapie, fehlt deshalb nach Ansicht des Psychiaters Klein immer noch schmerzhaft. Nach den

Gütekriterien, die man der (bei Psychotherapeuten oft verhassten) Pharmaindustrie schon lange auferlegt

hat, müsste eigentlich jede Form der Psychotherapie» doppelblind «gegen eine Scheinbehandlung

(Placebo) ins Rennen geschickt werden. Das ersparte der einen Hälfte der Klienten die demoralisierende

Erfahrung, dass ihnen die erlösende Behandlung vorenthalten wird. Und das erlaubte, die» Spreu «der

Hoffnung vom» Weizen «des therapeutischen Effektes zu trennen. Es ist im Grunde ungeheuerlich, dass

die Psychotherapie sich bis heute wortgewandt vor dieser ultimativen Qualitätskontrolle drückt, während

sie der Pharmaindustrie immer wieder deren angebliche moralische und methodische Schwächen unter

die Nase reibt.

«Manche Formen der Psychotherapie sind bei gewissen Störungen wirksamer als andere«

Wenn philippinische Wunderheiler beim Kampf gegen Krebs den gleichen Erfolg hätten wie

Onkologen, wäre die moderne Onkologie am Ende. Wenn Aspirin Tumorschmerzen genauso

wirkungsvoll linderte wie Morphium, gäbe es keinen Grund mehr, Opiate anzuwenden. Die

entscheidende wissenschaftliche Rechtfertigung für die Anwendung eines therapeutischen Verfahrens

liegt also immer darin, dass es den verfügbaren Alternativen überlegen ist. Was die vergleichende

Bewertung der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen angeht, fällt das Urteil auf dem höchsten

Stand des Wissens jedoch äußerst beschämend aus: Behandlungsmethoden, die aus der Sicht

konkurrierender Schulen nur als» Scharlatanerie «gelten können, erzielen bei identischen Störungen den

gleichen Heileffekt. Und der ist, wenn überhaupt, höchstens eine Haaresbreite vom Placebo-Effekt

entfernt.

Mehrere der Psychotherapie freundlich gesinnte Analysen der letzten Jahre kamen immer wieder zu

einem einhelligen Resümee: Psychotherapie sei tatsächlich wirksamer als keine Behandlung. Es stimmte

allerdings schon immer misstrauisch, dass keine Unterschiede zwischen den einzelnen Methoden zu

verzeichnen waren, obwohl diese doch krass gegensätzliche Grundannahmen über die Entstehung und

Behandlung von seelischen Störungen vertreten. Durch diese globale» Absolution «blieben der Branche

hässliche Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen erspart. Auf dem» Trittbrett «des

Gleichheitsverdiktes machten es sich auch obskure therapeutische Bewegungen gemütlich, die sich erst

gar keiner wissenschaftlichen Gütekontrolle unterworfen hatten.

Eine Forschergruppe um den amerikanischen Psychologen Lester Luborsky hat das Gleichheitsverdikt

im Jahr 1975 zynisch durch ein Zitat des Vogels» Dodo «aus» Alice in Wonderland «verewigt:»Jeder hat

gewonnen, und alle müssen den Preis bekommen.«20 Bei ihrer Übersicht über die vorliegenden

Vergleichsstudien waren die Autoren zu dem Schluss gelangt, dass kein einziges der getesteten Verfahren

seinen Alternativen in irgendeinem Punkt überlegen war.»Seit dieser Zeit kamen fast alle umfassenden

Literaturübersichten immer wieder zu dem identischen Ergebnis«, rekapituliert eine Forschergruppe um

die US-Psychologin Karen Tallman.21 Auch die sehr zuverlässigen» Metaanalysen«, bei denen die Daten

aus allen früheren Studien» in einen Topf geworfen «und wie eine einzige große Superstudie ausgewertet

wurden, bestätigten das Motto» alle sind gleich«. Die Dauer der Behandlung und die Berufserfahrung des

betreffenden Therapeuten hatten ebenfalls keinen oder höchstens einen vernachlässigbar schwachen

Effekt.»Unterschiede darin, wie eine Psychotherapie ausgeführt wird, allein oder in Gruppen, von einem

Anfänger oder einem erfahrenen Therapeuten, als Langzeitbehandlung oder für eine kurze Zeitspanne,

haben wenig Einfluss darauf, wie erfolgreich sie ist«, folgert der amerikanische Psychologe Al Siebert aus

den vorliegenden Metaanalysen.22

Obwohl das Dodo-Verdikt durch viele hundert Studien eindeutig gestützt und bei der überwältigenden

Mehrheit aller neuen Literaturübersichten und Metaanalysen immer wieder bestätigt wird, weigern sich

die Psychotherapeuten starrsinnig, sich dieser Tatsachen zu stellen, wundert sich das Team um die

Psychologin Tallman. Stattdessen versuchen sie unentwegt, die unliebsame» Gleichmacherei «durch

Ausflüchte und Rationalisierungen im Fachkauderwelsch schönzureden.

Die» Pattsituation «wird auch nicht durch das überaus einflussreiche, 900 Seiten dicke Gutachten

korrigiert, mit dem der Berner Psychologie-Professor Klaus Grawe 1994 für Schlagzeilen im deutschen

Sprachraum sorgte.23 Fazit der Expertise, die auf einer Metaanalyse von über 897 empirischen

Einzelstudien basierte: Der Trip zum Psychodoktor heilt nicht alles und jedermann, manche

Schulrichtungen sind vom Effekt her» gleicher «als andere, und eine Erhöhung der therapeutischen Dosis

schmälert häufig deren Segen. Grawe will bei seiner Analyse endlich Beweise gefunden haben, dass

manche Therapien ihren Konkurrenten überlegen sind. Verhaltenstherapien schnitten zum Beispiel

besonders gut bei der Behandlung von Ängsten ab, während die freudsche Psychoanalyse bei der