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Scientist «an den Pfeilern dieser lieb gewordenen Denkvorstellung.J» Die populären Mythen sind

Fehlinterpretationen und Wunschvorstellungen, die durch wissenschaftliche Beobachtungen nicht zu

begründen sind«, pflichtet die Biopsychologin Jerre Levy von der Universität Chicago bei.2»Die meisten

Interpretationen dieser Zweiteilung gehen nicht nur weit über die Tragweite der existierenden

wissenschaftlichen Daten hinaus«, bestätigt Bruno Preilowski, Professor für Physiologische Psychologie

an der Universität Tübingen.3»Sie spiegeln eigentlich eher unsere Neigung wider, in Gegensatzpaaren zu

denken. «Das schwerste Geschütz fährt der Neurologie-Professor Robert Efron aus San Diego auf — in

einem Buch mit dem bezeichnenden Titel» Niedergang und Fall der hemisphärischen Spezialisierung«:4

«Der Forschungszweig, der sich mit Leistungsunterschieden zwischen den beiden Hemisphären

beschäftigt, ist hirntot.«

Bis zu den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war sich die Fachwelt einig,

dass unser in zwei symmetrische Hälften geteiltes Gehirn als einheitliches Ganzes funktioniert. Der Geist,

hatte der Philosoph Rene Descartes im siebzehnten Jahrhundert verkündet, thront in der von der

Zweiteilung ausgenommenen Zirbeldrüse, und die beiden Hirnhälften folgen seinem Ratschluss in trauter

Einhelligkeit. Doch dann fanden der französische Neurologe Paul Broca und der deutsche Nervenarzt

Paul Wernicke heraus, dass Verletzungen der linken Hemisphäre des Großhirns schwere Sprachstörungen

nach sich ziehen, die bei vergleichbaren Schädigungen auf der rechten Seite nicht zu beobachten sind.

Das Sprachvermögen wurde nun exklusiv der linken Hirnhälfte zugewiesen, die rechte Hemisphäre

galt als sprachlos und stumm. Die Wissenschaftler zogen daraus den übereilten Schluss, dass die linke

Hemisphäre nicht nur bei der Sprache, sondern bei allen psychischen Prozessen die dominante sei. Die

rechte Seite wurde als denkunfähige Relaisstation heruntergestuft: Da jede Hirnhälfte mit der

gegenüberliegenden Seite des Körpers verbunden ist, war die rechte Hemisphäre nur nötig, um ihren

Gegenpol über die Vorgänge auf der linken Seite des Körpers aufzuklären.

Dann wurden immer mehr Fälle von Hirnverletzten bekannt, die je nach Seite der Schädigung mit

unterschiedlichen Ausfallserscheinungen zu kämpfen hatten. Bei rechtsseitigen Defekten standen

Schwierigkeiten beim Zeichnen, beim Nachbauen von Mustern mit farbigen Klötzen, beim Lesen und

Anfertigen von Landkarten und einer Reihe weiterer räumlicher Aufgaben im Vordergrund. Wenn die

linke Hälfte das Organ der sprachlichen Leistungen ist, schlossen weitsichtige Forscher, dann hat die

rechte bei den nonverbalen Leistungen die Oberhand. Doch diese Gelehrten blieben Rufer in der Wüste,

bis der spätere Nobelpreisträger Roger Sperry in den frühen sechziger Jahren des vergangenen

Jahrhunderts schwere Epilepsien behandelte, indem er bei seinen Patienten den Balkenkörper

durchtrennte, der für den Informationstransfer zwischen den beiden Hirnhälften verantwortlich ist.

Durch ihre teilweise bizarren Symptome sollten diese» Split-Brain-Patienten «weltweite Berühmtheit

erlangen. Einen Gegenstand, der für sie unsichtbar in die rechte Hand (linke Hirnhälfte) gelegt wurde,

konnten sie leicht benennen, aber Objekte in der linken Hand (rechte Hirnhälfte) konnten sie weder

benennen noch beschreiben. Ihre rechte Hirnhälfte war dem Gegenüber bei räumlichen Aufgaben

überlegen, doch die linke Seite trumpfte bei sprachlichen und logisch-analytischen Leistungen auf.

Schließlich wurden diese Beobachtungen durch einflussreiche Experimente ergänzt, die prüften, ob die

jeweilig angesprochenen Hirnhälften gesunder Menschen einen Geschwindigkeitsvorteil beim

Identifizieren bestimmter Reize haben. Tatsächlich, so die Erkenntnis, nimmt die rechte Hemisphäre

schneller Gesichter, das Mienenspiel als Ausdruck von Gefühlen oder räumliche Strukturen wahr,

während die linke rascher Wörter und sinnlose Silben erkennt. Um 1970 herum war die Vorrangstellung

der linken Hemisphäre gebrochen. Die große Mehrheit der Forscher schloss sich nun der Anschauung an,

dass jede Gehirnhälfte hochspezifische Leistungen erbringt. Die linke wurde als analytisch, logisch,

sequenziell und verbal, die rechte hingegen als räumlich, ganzheitlich, intuitiv und kreativ eingeschätzt.

Unter dem späten Einfluss der Hippie- und Protestbewegung nahm allmählich sogar eine

«Rechtsverherrlichung «des Gehirns überhand. Es wurde immer wieder kritisch geäußert, dass unsere

Gesellschaft mit ihrem Bildungswesen einseitig die trockenen, rationalen Fähigkeiten ihrer linken

«Schokoladenseite «favorisiert. Die rechte Hemisphäre, deren verschüttete Talente es zu fördern gelte,

wurde zum Hort der unterdrückten kreativen und intuitiven Menschlichkeit verklärt.»Sie wurde zu einem

Symbol für die kreativen, ausgebeuteten Menschen des Ostens gegen den brutalen westlichen Moloch«,

rekapituliert der australische Psychologe Michael C. Corballis.5 Sie bekam die weiche, empfindsame Seite

der Frau (Ying) zugewiesen, während man der linken Hirnhälfte die verabscheuten harten Wesenszüge

des Mannes (Yang) zuschrieb.

Darin steckte übrigens schon ein großer Denkfehler, gibt Corballis zu bedenken: Frauen haben

nachweislich mehr sprachliche Intelligenz als Männer, und die Sprache» sitzt «doch nun einmal im

«bösen «linken Gehirn. Dafür kommen Männer besser mit räumlichen Aufgaben zurecht, obwohl die

räumliche Intelligenz in der» guten «rechten Hemisphäre wohnt.

«Die beiden Gehirnhälften beherbergen völlig getrennte Geistesgaben«

Die Beobachtung, dass die beiden Gehirnhälften unterschiedliche Leistungsschwerpunkte besitzen,

verleitete viele Wissenschaftler (und erst recht Ratgeberautoren) zu einem gewagten und unzulässigen

Gedankensprung: Demnach setzen unterschiedliche Aktivitäten und psychische Anforderungen immer nur

die jeweils» zuständige «Hemisphäre in Gang, während die jeweils ungeforderte Seite des Hirnes bloß in

einem dumpfen Dämmerzustand dahinvegetiert.»Man könnte leicht den Schluss ziehen, dass der Mensch

in jedem Augenblick seines Lebens große Teile seiner Gehirnkapazität verschwendet«, karikiert der

amerikanische Neurobiologe Brett Blatchley diese primitive Sicht.6 Wenn der Mensch einer

«rechtslastigen «Funkhon (zum Beispiel Musikhören) nachgeht, würde die linke Hemisphäre demnach

abgeschaltet, wohingegen in der rechten Hälfte beim Lesen dieser (analytischen) Zeilen das Licht

ausgeht.

Der Mythos von den zwei unabhängigen Gehirnen war jedoch auf eine irrige Voraussetzung

gegründet, hebt die Psychologin Jerre Levy hervor:»Da jede der Hälften spezialisiert war, müsse sie wie

ein völlig eigenständiges Gehirn funktionieren. Tatsächlich ist jedoch genau das Gegenteil richtig: In dem

Maß, wie Hirnregionen differenziert sind, müssen sie ihre Aktivitäten auch aufeinander abstimmen.«

Den größten Schlag erlitt die Irrlehre von den beiden separaten und unabhängigen Gehirnfunktionen,

als die Forscher in den letzten Jahren begannen, die Aktivität in unserem Zentralorgan mit den neuen

bildgebenden Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen