Georg wurde schmerzlich bewegt durch diese Nachricht, er hatte bis jetzt geglaubt, Marie werde die Nachricht seines Unfalls zugleich mit der tröstlichen Kunde seiner Genesung erhalten; und jetzt mußte er erfahren, daß sie mehrere bange Tage in Ungewißheit geschwebt sei; in der schrecklichen Ungewißheit, ob er nicht hier noch entdeckt werde, ob er gerettet werde, ob sie ihn je wiedersehen würde; er kannte ihr treues Herz, und wie lebhaft konnte er sich ihren Kummer denken! Wahrlich, sein eigenes Unglück schien ihm gering und nicht zu beachten, wenn er sich den Jammer des teuren Mädchens vorstellte. Wieviel hatte sie in Ulm gelitten, wie schmerzlich war ihr der Abschied von ihm geworden; und kaum hatte ihr Herz wieder freier geatmet in dem Gedanken, daß er des Bundes Fahnen verlassen werde, kaum hatte sie ein wenig heiterer in die Zukunft gesehen, so kam ihr die Schreckensbotschaft von der tödlichen Wunde. Und dieses alles vor den Blicken des Vaters verschließen zu müssen, diesen großen Schmerz allein tragen müssen, ohne eine, auch nur eine Seele zu haben, bei welcher sie weinen, bei welcher sie Trost suchen konnte. Jetzt füllte er erst, wie notwendig es sei, schnell nach Lichtenstein zu eilen, und seine Ungeduld wurde zum Unmut, daß jener, sonst so kluge Mann, gerade in diesen kostbaren Augenblicken so lange ausbleibe.
Das Mädchen mochte seine Gedanken erraten, »I sieh wohl, Er möchtet gern von ich fort; wenn no der Vater do wär, denn alloi fendet Er da Weg noch Lichtastoi net; Er send koi Witaberger, des merke an der Sproch, und so kennet Er leicht verirra. Wisseter was? i lauf em Vater entgege und mach, daß er bald kommt.«[A20]
»Du wolltest ihm entgegengehen?« sagte Georg, gerührt von der Gutmütigkeit des Mädchens, »weißt du denn, ob er schon in der Nähe ist; vielleicht ist er noch stundenweit entfernt, und in einer Stunde wird es Nacht!«
»Und wär's so Nacht, daß mer da Weg mit de Händ greifa müeßt, und müeßet e laufa bis Lichtastoi, i wett's gern dauh, Er kommet jo no bälder zu –«[A21] errötend schlug sie die Augen nieder, denn trieb sie auch ihr gutes Herz, sich zum Liebesboten des Ritters anzubieten, so schämte sie sich doch, jenes zarte Verhältnis, das ihr heute so klar, wie noch nie zuvor einleuchtete, zu berühren.
»Und willst du mir zulieb gehen bis Lichtenstein, so wäre es ja töricht von mir, zurückzubleiben, und erst deinen Vater zu erwarten. Ich sattle geschwind mein Roß und reite neben dir her, und du zeigst mir den Weg, bis ich ihn nicht mehr verfehlen kann!«
Das Mädchen von Hardt schlug die Augen nieder und spielte mit dem langen Zopfband; »aber es wird jo scho enera Stund Nacht«,[A22] flüsterte sie kaum hörbar.
»Ei, was schadet das, dann bin ich um den Hahnenschrei in Lichtenstein«, antwortete Georg, »du wolltest dich ja vorhin selbst bei Nacht und Nebel auf den Weg machen.«
»Ja i wohl«, entgegnete Bärbele ohne aufzusehen, »aber Euch ist's gwiß et gsund, wo ner erst krank gwä sent, so in der kühla Nacht en Weg von sechs Stund z'macha.«[A23]
»Das kann ich nicht beachten«, rief Georg, »und die Wunde ist ja geheilt, ich bin gesund wie zuvor; nein! rüste dich immer, gutes Kind, wir brechen sogleich auf, ich gehe mein Pferd zu satteln.« Er nahm den Zaum von einem Nagel an der Wand, wo er aufgehängt war, und schritt zur Türe.
»Herr! Euer Gnaden!« rief ihm das Mädchen ängstlich nach; »lasset's lieber geh. Gucket, 's tuet se et, daß mer so selbander in der Nacht fortganget. D'Leut in Hardt send so gar wunderlich, und mer tät mer gwiß ebbes ahänga, wenne –.[A24] Wartet lieber bis morga früh, so wille Ich meitwega führa bis Pfullinga.«
Der Junker ehrte die Gründe des guten Mädchens, und hing schweigend den Zaum wieder an die Wand. Es möchte ihm freilich lieber gewesen sein, wenn die Leute von Hardt weniger geneigt waren, Böses zu denken; doch es war hier nichts zu tun, als sich schweigend in sein Schicksal zu ergeben. Er beschloß daher diesen Abend und die folgende Nacht noch auf den Pfeifer zu warten; käme er nicht, so wollte er mit dem frühesten Morgen zu Pferd sein, und unter Leitung seiner schönen Tochter nach Lichtenstein aufbrechen.
III
Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie schaffen und weben Tag und Nacht,
Sie säuseln an allen Enden,
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden.
Aber der Pfeifer von Hardt kehrte auch in dieser Nacht nicht nach Haus zurück, und Georg, der seine Sehnsucht nach der Geliebten nicht mehr länger zügeln konnte, sattelte, als der Morgen graute, sein Pferd. Die runde Frau hatte nach einigen harten Kämpfen, mit ihrem Töchterlein, erlaubt, daß sie den Junker geleiten dürfe. Sie wußte zwar, daß ein so unerhörtes Ereignis viele Abende zur Unterhaltung in den Spinnstuben von Hardt dienen werde, und sah es deswegen nicht ganz gerne. Wenn sie aber bedachte, wieviel ihrem Eheherrn an dem jungen Ritter gelegen sein müsse, weil er ihn in sein Haus aufgenommen, und wie einen Sohn gepflegt hatte, so glaubte sie doch diesen letzten Dienst ihrem Gast nicht abschlagen zu dürfen; doch machte sie die Bedingung, daß Bärbele vorausgehen, und ihn eine Viertelstunde hinwarfst an einem Markstein erwarten müsse.
Georg nahm gerührt Abschied von der stattlichen, runden Frau, die ihm zu Ehren heute noch einmal in ihrem Sonntagsstaat prangte; er hatte in den geschnitzten Schrank einen Goldgulden gelegt, ein wichtiges Geschenk für die damalige Zeit, und eine bedeutende Summe für die Reisekasse Georgs von Sturmfeder. Der Pfeifer von Hardt soll übrigens nie etwas von diesem Depositum erfahren haben; sei es nun, daß die gute runde Frau den Goldgulden nicht gefunden hat, oder daß sie ihrem Eheherrn nichts davon berichtete, aus Angst, er möchte den Junker durch die Rückgabe des Geschenkes beleidigen. Nur so viel ist gewiß, daß die Frau des Spielmanns kurze Zeit nach diesem Vorfall mit einem nagelneuen Rock in der Kirche erschien, zur Verwunderung aller Weiber in der Gegend, und daß ihre Tochter Bärbele ein schönes Mieder von feinem Tuch mit Goldborden auf der nächsten Kirchweihe trug, das man früher nie an ihr gesehen. Auch soll sie jedesmal errötet sein, wenn die Mädchen das neue Mieder befühlten und lobten. Welch großen Staat konnte man in den guten Zeiten um einen Goldgulden machen!
Georg traf seine Führerin auf dem bezeichneten Markstein sitzen. Sie sprang auf, als er herankam, und ging mit raschen Schritten neben ihm her. Das Mädchen kam ihm heute noch viel hübscher vor als gestern. Ihre Wangen hatte der frische Aprilmorgen mit hohem Rot bedeckt, und ihre Augen glänzten freundlich. Ihre Tracht eignete sich ganz gut zu einem weiten Marsch, denn das kurze Röckchen hinderte den Fuß nicht, flink auszuschreiten. Sie hatte ein Körbchen an den Arm gehängt, als wolle sie zu Markt in die Stadt gehen. Sie trug aber weder Gemüs noch Früchte darin, was sie wohl sonst in die Stadt zu bringen pflegte, sondern ein Regentuch, mit dem sie sich gegen die wechselnden Launen eines Apriltages versehen hatte. Der Junker dachte bei sich, als sie so schmuck und rüstig neben ihm hinging, daß das Mädchen wohl einmal eine gute, tüchtige Hausfrau zu werden verspreche, und pries den jungen Burschen glücklich, der einst das Kleinod des Spielmannes von Hardt für sich gewinnen werde.
Sie hatte unstreitig viel von dem lebhaften Geiste ihres Vaters geerbt. Denn, wie auch jener bei der Reise über die Alb seinem vornehmen Gefährten durch Erzählungen und Hindeutungen auf die Gegend den Weg zu verkürzen bemüht gewesen war, so wußte auch sie, sooft das Gespräch zu stocken begann, entweder auf einen schönen Punkt in den Tälern und Bergen umher, aufmerksam zu machen, oder sie teilte ihm unaufgefordert eine und die andere Sage mit, die sich an ein Schloß, an ein Tal oder einen Bach knüpften.
A20
»Allein könnt Ihr den Weg nicht finden. Ihr seid kein Württemberger, man merkt es an der Sprache, Ihr könnet leicht verirren, doch ich, laufe meinem Vater entgegen und bewirke, daß er schneller kommt.«
A21
»Und wäre es so Nacht, daß man den Weg mit den Händen greifen müßte, ich laufe bis Lichtenstein, ich wollte es gerne tun. Ihr kommet dann bälder zu –«
A23
»Ich wohl, aber Euch ist es gewiß nicht gesund, da Ihr kaum genesen seid, in einer kühlen Nacht den Weg von sechs Stunden zu machen.«
A24
»Lasset es doch! es schickt sich nicht, daß wir zusammen in der Nacht fortgehen; die Leute in Hardt sind wunderlich, man könnt mir manches nachsagen, wenn ich –«