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Dann kam Vater durch die niederstürzenden Wassermassen angerannt. Im Schutz der Einfahrt stapfte er ein paarmal kräftig mit den Füßen auf, um das Wasser aus den Kleidern zu schütteln, und legte den Arm um Mutters Schulter. Kim erwartete, daß sein Vater »Warten wir, bis der Regen aufhört« oder etwas dergleichen sagen würde, statt dessen trat er einfach wortlos auf der anderen Seite der Toreinfahrt wieder in den Regen hinaus.

Kim zog den Kopf zwischen die Schultern und lief frierend hinterher. Alle drei waren bis auf die Haut durchnäßt, als das große, eckige Gebäude der chirurgischen Klinik vor ihnen auftauchte. Auch Kim hatte in diesem Trakt des Krankenhauses gelegen, aber damals war ihm alles hier freundlich und hell vorgekommen. Hinter den schräg niederfallenden Regenschleiern erschien ihm das Gebäude wie eine finstere Burg, ein schwarzes Zauberschloß, in dem Dämonen und Hexen und telepathische Sumpfungeheuer hausten.

Sein Blick fiel auf das große Messingschild neben dem Eingang, während sie auf die beschlagenen Glastüren zuliefen.

CHIRURGISCHE ANSTALTEN DER UNIVERSITÄTSKLINIK DÜSSELDORF.

Kim schauderte. Er mochte das Wort Klinik nicht, und das Wort Anstalt schon gar nicht. Er hatte Vater einmal gefragt, warum man ein Krankenhaus ausgerechnet »Anstalt« nannte, aber Vater hatte auch keine Antwort darauf gewußt. Das Wort flößte ihm Unbehagen, ja Angst ein, es erinnerte an Gefängnisse und Irrenanstalten und modrige, feuchte Keller voller Ratten und Ungeziefer und Schimmel. Aber während er jetzt auf den finster starrenden Betonklotz mit seinen blinden Fenstern zuging, erschien ihm die Bezeichnung berechtigt.

Eine Welle stickiger warmer Luft schlug ihnen entgegen, als sie das Gebäude betraten. Kim schlüpfte durch die zuschwingende Glastür, schüttelte sich und lief dann schnell hinter seinen Eltern her. Sie durchquerten einen Vorraum, in dem ihre Schritte auf dem gefliesten Boden ein seltsam hallendes Echo hervorriefen, gingen dann durch eine lange, mit hochlehnigen Bänken ausgestattete Halle und traten durch eine weitere Glastür in den Wartesaal der Kinderklinik. In einer Ecke standen ein niedriger Tisch und mehrere unbequem aussehende Holzstühle, daneben eine verkümmerte Zimmerpflanze und ein verbeulter Standaschenbecher, der von Zigarettenkippen und Papier überquoll.

»Wartet bitte hier«, sagte Vater, »ich sehe nach, ob Doktor Schreiber schon da ist.« Er deutete auf die Stühle, lächelte Mutter aufmunternd zu und verschwand hinter der Pendeltür, die in die chirurgische Abteilung führte.

Kim legte den Teddybären behutsam auf den Tisch und setzte sich. Seine Mutter blieb stehen und starrte auf die geschlossenen Aufzugtüren an der Stirnseite der Halle. Das Licht über einer der Liftkabinen glomm auf, ein helles »Ping« ertönte, und die Türen rollten zur Seite. Der Leuchtpunkt spiegelte sich als heller Fleck in Mutters Pupillen.

Kim drehte sich halb auf seinem Stuhl herum und sah neugierig zum Aufzug hinüber. Zwei Ärzte und eine Schwester, in dunkelgrüne Kittel, Haarnetze und blaue Kunststoffschuhe gehüllt, schoben ein weißes Krankenhausbett aus der Kabine. In dem Bett lag ein Mann. Das vermutete Kim jedenfalls, denn er konnte nicht viel mehr als einen schwarzen Haarschopf und ein Stück nackte Schulter erkennen. Die Schwester ging mit kleinen schnellen Schritten neben dem Bett her, in der erhobenen Hand eine gläserne, mit einer gelben Flüssigkeit gefüllte Flasche haltend, von der ein dünner Plastikschlauch unter die Bettdecke führte.

Kim sah auf, als er merkte, daß seine Mutter wieder zu schluchzen begonnen hatte. Ihr Blick hing wie hypnotisiert an der zugedeckten Gestalt auf dem Bett und folgte ihr auch noch, als das Ärzteteam mit dem Patienten längst hinter der Milchglasscheibe der Tür verschwunden war.

Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, ehe sich die Pendeltür wieder öffnete und Vater zurückkam.

»Ihr könnt kommen«, sagte er. »Doktor Schreiber erwartet uns.«

Sie betraten den langen, hellgelb gestrichenen Gang. Kim kümmerte sich nicht um das Metallschild neben der Tür, das besagte, daß Kinder unter vierzehn Jahren keinen Zutritt zu diesem Teil des Krankenhauses hatten. Er kannte diesen Gang. Er hatte in derselben Abteilung gelegen, und trotz der Zeit, die seit seiner Blinddarmoperation verstrichen war, schien sich hier nicht das geringste geändert zu haben. Die Bilder an den Wänden waren noch genauso uninteressant wie damals, und selbst der durchdringende Krankenhausgeruch, den er mittlerweile vergessen hatte, war ihm mit einem Mal wieder gegenwärtig, fast so, als lege man größten Wert darauf, hier nichts zu verändern, alles so zu lassen, wie es war. Vielleicht war es tatsächlich noch immer derselbe Geruch, vielleicht konservierten sie sogar die Luft hier drinnen auf eine geheimnisvolle Art.

Vater eilte zu der kleinen Glaskabine voraus, die sich in der Mitte des Flurs auf der rechten Seite befand, wechselte ein paar Worte mit der Schwester darin und ging dann weiter. Bei der vorletzten Tür hielt er an. Vater klopfte, wartete eine Sekunde und drückte dann die Klinke herunter.

Kims Herz begann schnell und fast schmerzhaft zu hämmern, als sie das Zimmer betraten. Es war dunkel. Die Jalousien waren heruntergelassen, so daß nur ein paar Streifen hellgrauen Lichts hereindrangen. In einer Ecke brannte eine kleine, mit einem Tuch abgedeckte Lampe. Zwei der drei Betten waren leer, und über dem Kopfteil von Rebekkas Bett hing eine ganze Batterie blinkender, piepsender und leuchtender Apparate. Auf einem kaum handtellergroßen Bildschirm hüpfte ein grüner Leuchtpunkt regelmäßig auf und ab und hinterließ dabei einen Schwanz winziger, flimmernder Sternchen. Daneben tickten beständig drei verschiedene Digitalanzeigen.

Mutter stieß einen kleinen, unterdrückten Schrei aus und trat mit zwei schnellen Schritten zum Bett. Ihre Schultern zuckten. Sie weinte lautlos.

Kim bemerkte erst jetzt, daß sich außer ihnen und Rebekka noch eine weitere Person im Zimmer befand. Dr. Schreiber hatte bis jetzt reglos neben dem Bett gestanden, so daß seine schmale Gestalt in dem weißen Kittel fast mit den Schatten verschmolzen war. Jetzt seufzte er, kam langsam um das Bett herum und berührte Mutter flüchtig am Arm.

»Es... es tut mir leid, Frau Larssen«, sagte er leise. Seine Stimme hatte einen hohen, etwas unangenehmen Klang, doch es hörte sich ehrlich an. »Aber... ich hielt es für besser, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«

Mutter nickte kaum merklich. Ihre Finger fuhren über die Bettdecke. »Es ist... es ist schon in Ordnung, Herr Doktor«, antwortete sie. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich so viel Mühe geben.«

Dr. Schreiber blickte fragend auf Kim.

»Der Junge weiß Bescheid«, erklärte Vater. »Ich habe ihm alles gesagt.«

Dr. Schreiber nickte, wie zu sich selbst, und steckte die Hände in die Taschen seines weißen Arztkittels. »Sicher. Es ist vielleicht besser so.«

»Sie können ruhig sprechen«, sagte Mutter, ohne den Kopf zu wenden.

»Es gibt nicht viel zu sagen«, begann Dr. Schreiber zögernd. »Wir haben alles in unserer Macht Stehende versucht, leider ohne sichtbaren Erfolg. Natürlich ist es noch zu früh, um...« Er schüttelte den Kopf und nahm die Hände aus den Taschen. »Es ist sinnlos, Ihnen etwas vormachen zu wollen«, fuhr er mit fester Stimme fort. »Ich werde natürlich in den nächsten Tagen noch Kollegen hinzuziehen, aber der Fall sieht nicht gut aus. Im Moment wenigstens«, setzte er hastig hinzu. »Sehen Sie, wir... kennen solche Fälle. Ich habe in meiner Praxis noch keinen erlebt, ich kann daher nur auf die Fachliteratur und auf die Erfahrungen anderer Kollegen und Kliniken zurückgreifen. So etwas kommt vor - selten, aber doch. Die Medizin hat ein paar Erklärungen dafür, aber keine davon scheint mir im konkreten Fall wirklich überzeugend. Ein Mensch wacht einfach nicht wieder aus der Narkose auf. Alles ist in Ordnung. Der Organismus hat die Eingriffe gut überstanden, das Betäubungsmittel verliert seine Wirkung - aber der Patient wacht nicht auf.« Er schwieg kurz und suchte nach Worten. »Es ist, als... als weigere sich der Geist des Patienten, wieder ins Bewußtsein zurückzukehren. Oder als hielte ihn etwas zurück.«