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Kim schrie entsetzt auf, als er das Gesicht des Schwarzen Lords sah.

Es war sein eigenes!

Der Schwarze Lord war niemand anders als er selbst!

Von einer Sekunde auf die andere begriff er alles. In einer blitzartigen Vision rollte seine Flucht aus Morgon noch einmal vor seinen Augen ab, der Kerker, der Kampf auf der Burgmauer, den er niemals hätte gewinnen dürfen, seine Flucht durch den Spiegelsaal. Wieder hörte er die Worte, die Kart ihm noch im Sterben zugeflüstert hatte, und jetzt, endlich, begriff er ihren Sinn. Er sah sich wieder durch den großen, leeren Saal in Morgon rennen, sah den gigantischen schwarzen Spiegel und spürte das Gefühl der Schwäche, das ihn überkommen hatte.

Der Schwarze Lord war sein Spiegelbild! Sein negatives Spiegelbild, die Essenz all seiner schlechten Eigenschaften, aller bösen Gedanken, die er je in seinem Leben gedacht hatte.

Auch Themistokles schien in diesem Moment die Wahrheit zu erkennen. Sein zum Schlag erhobenes Schwert verharrte reglos in der Luft, und seine Augen weiteten sich.

Das kurze Zögern kostete ihn das Leben. Der Schwarze Lord sprang auf, packte sein Schwert und stieß Themistokles die Klinge bis zum Heft in die Brust.

Minutenlang hockte Kim wie betäubt neben Themistokles und starrte auf den reglosen Körper. Mit dem Tod des Magiers schien auch in ihm etwas abgestorben zu sein. Kim begann erst jetzt wirklich zu ahnen, wieviel ihm dieser gute, sanftmütige alte Mann bedeutet hatte.

»Nun, Kim«, sagte Boraas nach einer Weile. »Erkennst du jetzt, wie sinnlos jeder Widerstand gegen uns ist? Du kannst nicht gegen dich selbst kämpfen. Niemand kann das.«

Kim setzte zu einer Antwort an, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er brachte kein Wort heraus. Er blickte ins Gesicht des Schwarzen Lords - sein eigenes Gesicht - und alles, was er darin sah, waren Haß, Kaltherzigkeit, Eigennutz und Bosheit. Das sollte er, Kim Larssen, sein?

»Du bist es«, antwortete Boraas, der Kims Gedanken las. »Gut und Böse wohnen in jedem Menschen. Es gibt keinen, der nur gut oder nur schlecht wäre. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. In den meisten Menschen gewinnt das, was ihr das Gute nennt und was ich Schwäche nenne. Nur bei wenigen überwiegt die wahrhaft starke Seite, für die wir uns entschieden haben. Themistokles hätte erkennen müssen, wer der Schwarze Lord ist, denn ihm widerfuhr - wenn auch vor langer Zeit - das gleiche Schicksal.«

»Dann bist du...«

»Ich erzählte dir, daß Themistokles und ich Brüder seien. Aber das stimmte nur zum Teil. Vor langer Zeit waren wir eins, so, wie du eins mit dem Schwarzen Lord warst. Und so, wie ein Blick in meinen magischen Spiegel aus einer Persönlichkeit zwei, dich und den Schwarzen Lord, schuf, so entstand aus dem einen Geschöpf, das wir beide einst waren, ein Doppelwesen, Themistokles und Boraas, Gut und Böse.«

Kim stöhnte. Gefühlsmäßig erfaßte er die Worte des Magiers genau; aber sein Verstand weigerte sich, sie als wahr anzuerkennen.

»Der Handel, den ich Themistokles vorschlug, gilt auch für dich«, fuhr Boraas fort. »Tritt zu mir über, und ich schenke dir das Leben. Mehr noch - ich verspreche dir, deine Schwester freizulassen.« Er deutete mit einer herrischen Geste auf den Thronsessel im Hintergrund des Saales. »Du hast schon einmal darauf gesessen, Kim. Er mag dir gehören. Ich biete dir die Herrschaft über Märchenmond.«

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Kim schwach. »Ich würde die erste Gelegenheit nutzen, dich zu vertreiben.«

Boraas lächelte. »O nein, Kim. Sobald du mir dein Wort verpfändest, gehörst du mir, auf ewig. Ich habe Mittel und Wege, jedem Verrat vorzubeugen.«

Kim schwieg lange.

Dann zog er entschlossen sein Schwert aus der Scheide und sah den Schwarzen Lord herausfordernd an.

Boraas hob die Hand. Ein Hagel schwarzer Pfeile zischte heran und löschte ein für allemal Kims Bewußtsein aus.

XX

Eine kühle Hand lag auf seiner Stirn, als er erwachte. Er lag in einem weichen Bett, warmes Sonnenlicht kitzelte sein Gesicht, und von irgendwoher wehte leise Musik an sein Ohr.

Aber das ist unmöglich! dachte er. Ich bin doch tot! Er erinnerte sich genau an die schwarzen Pfeile, und er glaubte auch noch die schmetternden Schläge zu hören, mit denen sich die Geschosse durch seine Rüstung gebohrt hatten.

»Nun«, sagte eine vertraute Stimme. »Wie geht es dir?«

Kim riß die Augen auf und starrte ungläubig in das Gesicht, das sich besorgt über ihn beugte.

»Priwinn!«

Der Steppenprinz nickte. »Kein anderer, kleiner Held.«

»Aber wieso...« Kim setzte sich auf und schlug die Decke zurück. Er war nackt bis auf einen schmalen weißen Lendenschurz, und seine Haut war unverletzt, ohne den kleinsten Kratzer. »Priwinn«, sagte er noch einmal. »Du... du lebst!«

»Was heißt hier du?« sagte eine Stimme von der anderen Bettseite her. »Wir!«

Kim fuhr herum und konnte es kaum fassen. »Ado!« rief er. »Auch du? Ist vielleicht Kelhim...«

»Ja, auch er«, sagte Ado. »Und Gorg und Rangarig ebenso.«

»Dann... dann seid ihr also alle noch am Leben! Und ihr seid zurückgekommen! Habt ihr die Eisriesen überredet, euch zu helfen?«

Priwinn grinste. »Nein, Kim. Sie pflegten uns gesund. Und sie fanden auch Gorg und den Drachen, die beide schwer verwundet waren und fiebernd durch die Berge irrten. Aber sie geleiteten uns nur bis an die Grenze ihres Reiches. Den Rest des Weges legten wir auf Rangarigs Rücken zurück.« Kim verstand nun überhaupt nichts mehr. Er schüttelte verwirrt den Kopf, stand auf und trat mit zitternden Knien ans Fenster. Goldenes Sonnenlicht umgab die gläsernen Mauern Gorywynns wie mit einem flammenden Glorienschein, und auf dem Hof unten, winzig klein und wie bunte Ameisen wimmelnd, bewegten sich Menschen.

»Aber wie...« fragte Kim stockend. »Ich verstehe nicht...«

»Du kannst es auch nicht verstehen«, sagte Ado. »Niemand hat es gewußt. Boraas selbst hat den Untergang prophezeit. Aber nicht einmal er hat die Wahrheit erkannt.«

Kim machte ein ratloses Gesicht. »Ich begreife kein Wort«, gestand er. »Wieso seid ihr hier? Wieso ist Gorywynn nicht zerstört? Ich habe gesehen, wie seine Wälle fielen...«

Priwinn unterbrach ihn mit einer sanften Handbewegung. »Deine Verwirrung ist nur zu verständlich, Kim«, sagte er. »Aber ein anderer soll dir erklären, was geschehen ist. Zieh dich an, wenn du dich kräftig genug fühlst.«

Kräftig? Kim fühlte sich so wohl und ausgeruht wie seit langem nicht mehr. Er ging zum Bett zurück, warf einen Blick auf die schwarze Rüstung, verwarf den Gedanken und streifte ein einfaches graues Gewand über, das daneben auf einem Stuhl lag. Ohne es erklären zu können, wußte er einfach, daß er die Rüstung nicht mehr brauchte.

Priwinn und Ado warteten geduldig, bis er sich angekleidet hatte. Dann deutete Ado mit einer einladenden Handbewegung auf die Tür, und Kim verließ zwischen ihm und Priwinn das Zimmer. Sie gingen den bekannten Weg durch die gläsernen Korridore zum Thronsaal hinauf, und überall begegneten ihnen lachende Menschen, Männer, Frauen und Kinder, Feen und Elfen und andere Zauberwesen. Nichts erinnerte mehr an den fürchterlichen Kampf, der noch vor kurzem hier getobt hatte. Gorywynn und seine Bewohner schienen von einem Angriff des schwarzen Heeres überhaupt nichts zu wissen.

Kims Neugierde wuchs fast ins Unerträgliche, aber er beherrschte sich und stellte keine Fragen. Dann endlich standen sie vor der Tür des Thronsaales.

»Mach dich auf eine Überraschung gefaßt«, sagte Priwinn geheimnisvoll. Kim sah den Steppenprinz fragend an. Dann streckte er die Hand nach der Klinke aus und öffnete die Tür.

Die große Tafel in der Mitte des Saales war unversehrt. Stühle und Sessel, jeder anders als der andere, jeder in Größe und Form seinem Benutzer angepaßt, umstanden sie. »Themistokles!« entfuhr es Kim. »Tümpelkönig! Harkvan!«