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»Märchenmond?«

»Der Name, den ihm deine Schwester gab. Er hat uns so gut gefallen, daß wir ihn übernommen haben.«

»Und Märchenmond ist...«

»Ein Land, ein Reich, eine Welt - wie du möchtest, Kim. Deine Schwester war oft drüben, und wir haben immer gehofft, daß sie dich eines Tages mitbringen würde. Wir haben gerne Besuch, weißt du.« Er seufzte und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch den Bart. »Aber leider ist jetzt etwas geschehen, was niemand voraussehen konnte. Und deswegen bin ich hier.«

Kim rutschte ein Stück in seinem Bett herunter, zog die Beine an den Körper und umschlang mit den Armen beide Knie. Sein Blick hing wie hypnotisiert an Themistokles' Gesicht.

»Für deine Schwester ist Märchenmond ein Land voller Freunde, voll Spaß und lustiger Spiele«, erklärte Themistokles ernst. »Aber Märchenmond ist auch ein Stück von eurer Welt. Es gibt Gutes und Böses dort, und wenn wir bisher auch stärker waren und das Böse unter Kontrolle halten konnten, so ist es doch da. Deine Schwester ist oft allein in Märchenmond spazierengegangen, und nie ist ihr etwas zugestoßen. Wir beobachten die bösen Mächte ständig, weißt du. Aber deine Schwester drang zu tief in den Wald vor, so tief, daß wir nicht mehr auf sie achthaben konnten. Wir bewachen unsere Grenzen scharf, aber es gibt Pfade und Wege über das Schattengebirge...«

»Schattengebirge?«

»Die Grenze unseres Landes. Es sind Berge, höher als der Mond, deren Schatten so tief sind, daß nichts Lebendes sie durchdringen kann. Aber es gibt Wege hinüber, die nicht einmal wir kennen. Und deine Schwester hat einen solchen Weg entdeckt. Sie ging hinüber.«

»Und dann?« fragte Kim atemlos.

Themistokles schwieg einen Moment und sah ihn durchdringend an. »Sie wurde gefangen. Boraas, der Herr der Schatten, sperrte sie in eines seiner Verliese.«

Kim fuhr auf. »Aber ihr...« rief er aufgeregt, »ihr müßt sie befreien.«

»Das geht nicht, Kim«, sagte Themistokles traurig. »Kein Bewohner Märchenmonds kann das Reich der Schatten betreten, ohne selbst zum Schatten zu werden. Glaube mir, ich selbst hätte gern mein Leben geopfert, um deine Schwester zu befreien, aber es ist unmöglich. Ich würde Boraas' Macht nur stärken, wenn ich es versuchte. Ich glaube sogar, daß er deine Schwester nur gefangenhält, um mich und vielleicht ganz Märchenmond zu vernichten.«

»Und du glaubst, daß... daß ich hinübergehen könnte, ohne zum Schatten zu werden?«

Themistokles nickte. »Ja, Kim. Jeder Bewohner eurer Welt kann sich im Reich der Schatten frei bewegen. Auch du.«

Kim überlegte einen Moment, schlug dann die Decke zurück und sprang mit einem Satz aus dem Bett.

»Worauf warten wir noch?« fragte er. »Gehen wir!«

Themistokles rührte sich nicht. »Ich wußte, daß du deiner Schwester helfen würdest«, sagte er. »Aber ich muß dich warnen. Es könnte gefährlich werden.«

»Das macht nichts«, sagte Kim.

»Sehr gefährlich. Vielleicht...« Themistokles sah an Kim vorbei in die Richtung, in der jenseits der Wand Rebekkas Zimmer lag. »Vielleicht kommst du nie mehr zurück«, fuhr er fort. »Vielleicht wirst du selbst gefangen. Boraas ist ein mächtiger, böser Zauberer. Seine Macht ist der meinen vollkommen ebenbürtig.«

»Das macht nichts«, wiederholte Kim. »Ich habe keine Angst. Dieser niederträchtige Kerl wird noch den Tag verfluchen, an dem er Rebekka gefangengenommen hat.«

Themistokles erhob sich. Er deutete zur Tür. »Nun gut. Wenn es dein fester Wille ist, dann folge mir.«

Kim folgte ihm. Im Treppenhaus brannte kein Licht, trotzdem konnte Kim sehen, als hätte er plötzlich Katzenaugen. Themistokles ging vor ihm die Treppe hinab. In der Diele blieb er stehen und öffnete lautlos die Wohnzimmertür.

»Du bist wirklich entschlossen?«

Kim nickte fest.

»So sei es denn.«

Themistokles durchquerte mit schnellen Schritten das Wohnzimmer und hielt vor der altmodischen Standuhr an. Kim fiel auf, daß sich das Pendel der Uhr nicht mehr bewegte. Jedoch das Uhrwerk tickte weiter.

»Es gibt noch viel, was ich dir erklären muß«, sagte Themistokles. »Aber die Zeit läuft uns davon. Ich werde drüben auf dich warten.« Er öffnete die Tür des Gehäuses, trat hinein und war verschwunden.

Kim rieb sich verwundert die Augen. Zögernd streckte er die Hand aus, berührte das stillstehende Pendel und stieß schließlich mit den Fingerspitzen gegen das harte Holz der Rückwand.

»Nein, Kim«, wisperte Themistokles' Stimme in seinem Kopf. »Dieser Weg nach Märchenmond ist dir versperrt.«

»Aber wie...«

»Jeder Mensch kennt den Weg zu uns«, fuhr Themistokles fort. »Aber jeder muß seinen eigenen Weg gehen. Auch du. Finde ihn. Du kannst es. Beeil dich. Ich warte auf dich.«

Die Stimme verklang, und im gleichen Augenblick begann das Uhrpendel wieder zu schwingen.

Kim schloß die Tür des Gehäuses, blieb einen Moment unschlüssig stehen und ging dann in die Diele hinaus. Durch die Milchglasscheibe der Haustür drang mildes, weißes Licht herein. Er drückte die Klinke herunter, trat auf die Treppenstufen hinaus und zog die Tür leise hinter sich ins Schloß.

Die Viper stand direkt vor dem Haus, in der Mitte der Straße. Die schmalen Flügelspitzen reichten bis an den Vorgarten seines eigenen und den des gegenüberliegenden Hauses, und der schlanke Rumpf schien vor mühsam beherrschter Erregung zu pulsieren.

Kim lief die Stufen hinunter, strich sich mit der Hand über die glatte, dunkelbraune Lederuniform, die seinen Körper wie eine zweite Haut umspannte, und stand auch schon neben der Maschine. Seine Hand drückte die verborgene Sensortaste neben der schmalen Metalleiter, die zum Cockpit hinaufführte. Leises Summen ertönte, als die gläserne Pilotenkanzel nach oben schwang. Kim kletterte die Leiter hinauf, ließ sich in den weichen Kontursessel fallen und griff nach den Anschnallgurten. Die Kanzel schloß sich automatisch wieder, als der Verschluß einrastete. Gleichzeitig flammte die Instrumentenbeleuchtung auf und tauchte die Kabine in mildes, grünes Licht.

Kim griff nach dem Helm, setzte ihn auf und klappte das Visier herunter. Seine Finger tasteten zielsicher über die komplizierte Anordnung von Knöpfen, Instrumenten und Reglern vor sich, legten Schalter auf Schalter um und erweckten die komplizierte Technik der Viper Stück für Stück zum Leben.

Sanftes Vibrieren lief durch den deltaförmigen Raumjäger. Im Zentrum des halbrunden Steuerknüppels begann ein winziges rotes Licht zu flackern. Kim streckte die Hand nach dem Hebel aus, holte noch einmal tief Luft und drückte dann mit einer entschlossenen Bewegung den Startknopf.

Die beiden Staustrahltriebwerke der Viper sprangen brüllend an. Ein berstender, vielfach gebrochener Donnerschlag brachte die Fensterscheiben in weitem Umkreis zum Klirren. Kims Finger griffen nach dem Beschleunigungshebel. Die Nachbrenner zündeten mit dumpfem Röhren. Gleißendes Licht brach aus den Raketendüsen der Viper und tauchte die Häuser rechts und links der Straße in unerträgliche Helligkeit. Die Viper setzte sich dröhnend in Bewegung, zog dicht über die Hausdächer hinweg und stieg dann, von einem hellodernden Feuerstrahl getragen, zu den Sternen empor.

III

Obwohl er den Beschleunigungshebel nur um eine Winzigkeit nach vorne geschoben hatte, schien die Stadt regelrecht unter ihm wegzustürzen. In weniger als einer halben Minute schrumpfte sie zuerst zu einem flimmernden Lichtermeer und dann zu einem trüben Fleck zusammen, der schließlich von der nachdrängenden Dunkelheit der Nacht verschluckt wurde. Kim bewegte vorsichtig den Steuerhebel, legte die Maschine auf die Seite und flog in einer weiten Schleife nach Norden. Der Fluß tauchte unter ihm auf, ein dünnes, schwarzes Band, stellenweise von treibenden grauen Wolken überdeckt, das sich in eigenwilligen Schlangenlinien dem Meer entgegenwand. Kim drückte die Viper etwas tiefer, schnitt mit den messerscharf auslaufenden Flügelspitzen eine tiefhängende Wolke entzwei und beschleunigte vorsichtig weiter. Die Maschine vibrierte. Das Land unten wurde zu einem verschwommenen Einerlei verschiedener Grautöne. Helle Lichtflecke huschten mit phantastischer Geschwindigkeit unter ihm vorbei, Städte und Dörfer, und dann, kaum drei Minuten nach dem Start, die Küste.