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Unter anderen Umständen hätte Kim seine helle Freude an dem Durcheinander gehabt, das so plötzlich losgebrochen war. Aber im Augenblick bemerkte er kaum etwas davon. Er spürte nicht einmal die Sahne, die auf seine rechte Wange klatschte und daran herunterzulaufen begann. Er hatte so komische Sachen an! Das war es!

Das war es, was er die ganze Zeit über geahnt hatte! Wieso war er nicht selbst darauf gekommen? Sofort und auf den ersten Blick?!

Weil es unmöglich ist, antwortete eine leise Stimme hinter seiner Stirn. Weil es völlig ausgeschlossen ist, und du weißt das ganz genau.

Aber das war die Stimme seiner Vernunft. Daneben gab es noch eine andere, die im Moment sehr viel stärker war - und von der er einfach wußte, daß sie recht hatte. Das Spiegelbild im Fenster. Der Junge, der aussah, als ob er träumte, und der so seltsame Sachen anhatte. Rebekkas böser Gesichtsausdruck und das sonderbare Unbehagen, das er selbst spürte, seit sie hierhergekommen waren.

Es gab nur eine Erklärung, auch wenn sie völlig unmöglich war. Es mußte einfach so sein. Und gleichzeitig durfte es nicht sein. Nicht um alles in der Welt.

Er hatte nur noch eine Wahl - er mußte sich mit eigenen Augen überzeugen.

Kim sprang so heftig auf, daß er dabei seinen Stuhl umstieß und den Kuchenteller vom Tisch riß.

»Kim!« schrie seine Mutter. »Wo willst du hin! Komm zurück!« Aber das hörte er schon gar nicht mehr. Er war auf der Stelle herumgefahren und stürzte aus dem Cafe. Als Kims Mutter ihre Überraschung endlich soweit überwunden hatte, daß sie die Verfolgung aufnehmen konnte, da war ihr Sohn bereits auf der anderen Seite der Straße und in der Toreinfahrt des Krankenhauses verschwunden.

Zum erstenmal heute war Kim froh, schon so oft hiergewesen zu sein, denn er kannte mittlerweile das Krankenhausgelände so gut, als wäre er hier zu Hause. Nicht, daß er auch nur eine Sekunde lang darüber nachgedacht hätte, was er nun tat - aber es erwies sich doch als Vorteil, nicht zum Pförtner gehen und fragen zu müssen, wohin man den Jungen gebracht hatte. Davon abgesehen, daß er wahrscheinlich gar keine Antwort auf diese Frage bekommen hätte, wäre kostbare Zeit verlorengegangen. Zeit, die er nicht hatte. Denn wenn schon nicht seine Mutter, so würde Tante Birgit garantiert die Verfolgung aufnehmen. Und sie war verdammt gut in Form.

Gottlob hatte Kim einen gewissen Heimvorteil auf seiner Seite. Er raste durch das Torgewölbe, schlug einen Haken nach links um einen verblüfften Krankenpfleger herum und schoß mit Riesensätzen quer über den kurzgeschnittenen Rasen auf den weißgekachelten Betonklotz zu, in dem sich die Notaufhahme befand. - Während der Zeit, in der sie Rebekka damals hier besucht hatten, hatte er oft genug aus dem Fenster geschaut und die Prozedur der Aufnahme verfolgt. Ganz sicher hatte man den Jungen zuerst hierher gebracht. Und das vor nicht allzulanger Zeit. Alles in allem konnten keine zehn Minuten vergangen sein, seit der Polizeibeamte allein aus dem Tor herausgekommen war. Kim warf einen Blick über die Schulter zurück und stellte erleichtert fest, daß von seiner Tante keine Spur zu sehen war und ihm auch sonst niemand folgte. Nur der Krankenpfleger stand wie vom Donner gerührt da und starrte dem blonden, hochgewachsenen Jungen nach, der den Frevel beging, einfach über den sorgsam manikürten Rasen zu laufen, wobei er dann und wann einen Satz machte, um über eines der ›RASEN BETRETEN VERBOTEN‹-Schilder zu springen.

Kurz bevor er die Aufnahme erreichte, lief Kim wieder auf den Kiesweg hinaus und fiel in einen leichten Trab. In Schweiß gebadet und keuchend vor Anstrengung, betrat er das Gebäude. Die infrarotgesteuerten Automatiktüren schienen zu kriechen, während sie vor Kim selbsttätig auseinanderglitten; um ein Haar wäre er gegen das Glas gerannt. Ein starker Geruch nach Desinfektionsmitteln und Krankenhaus schlug ihm entgegen, als er in die Halle stürmte. Der Anblick der blitzenden Kacheln, der weißgekleideten Schwestern und Ärzte, der kalten Kunststoffstühle und der lieblos gerahmten Drucke an den Wänden, die zusammen mit den künstlichen Blumen in ihren Plastikkübeln vergeblich versuchten, die triste Krankenhausatmosphäre aufzulockern, weckte wieder mit Macht die Erinnerung in Kim. Plötzlich fühlte er sich klein und verloren. Er hätte nicht hierherkommen sollen. Es war völlig verrückt - der Junge konnte nicht das sein, wofür er ihn hielt. In ein paar Minuten würde eine sehr wütende Tante Birgit hinter ihm auftauchen und ihm die Hölle heiß machen, und das (nebst des unangenehmen Gespräches mit seinem Vater, das unweigerlich am Abend folgen mußte) war dann alles, was er erreichen würde. Selbst wenn der Junge hier war - wie sollte er ihn finden?

Kim blieb unter der Tür stehen, um seinen pfeifenden Lungen Gelegenheit zu geben, sich halbwegs zu erholen, so daß er zumindest Luft zum Sprechen hatte. Dann trat er an die gewaltige Theke heran, die die gesamte rechte Hälfte des Raumes beherrschte. Ein halbes Dutzend Schwestern saß hinter grünleuchtenden Computerbildschirmen, ohne sichtbar Notiz von ihm zu nehmen.

Kim räusperte sich übertrieben, und nachdem er das dreimal hintereinander getan hatte, blickte eine der jungen Frauen tatsächlich zu ihm auf. Im ersten Moment wirkte sie ein wenig verwirrt, als sie sah, wie verschwitzt und abgekämpft er aussah. Dann lächelte sie freundlich und stand auf.

»Was kann ich für dich tun, junger Mann?« fragte sie. Eine gute Frage, dachte Kim. Er hätte eine Menge dafür gegeben, wenn ihm eine Antwort eingefallen wäre. Er druckste herum, dann sprach er einfach das erste aus, was ihm in den Sinn kam: »Mein Bruder«, sagte er schwer atmend. »Ich suche meinen Bruder. Er ist gerade ... gebracht worden. Der Unfall, ich meine ...«

Er begann zu stammeln und brach schließlich vollends ab, während die Schwester ihn fragend ansah. »Dein Bruder? Wie heißt er denn?«

»Thomas«, antwortete Kim, indem er den erstbesten Namen aussprach, der ihm in den Sinn kam.

»Und weiter?«

Jetzt geriet Kim in Verlegenheit, aber diesmal kam ihm der Zufall zu Hilfe - genauer gesagt, eine zweite Schwester, die von ihrem Monitor aufsah und erst ihn, dann ihre Kollegin durch ihre Brille anblickte.

»Der Junge, der hier vor dem Tor fast überfahren worden wäre?« fragte sie.

Kim nickte heftig.

»Der ist nicht hier.« Noch bevor Kim das Gefühl heftiger Enttäuschung, mit dem ihn ihre Worte erfüllten, auch nur richtig empfinden konnte, fügte sie hinzu: »Sie haben ihn in die Kinderklinik hinübergebracht.« Sie beugte sich hinter ihrem Computer vor und blickte Kim durchdringend an. Das grüne Licht des Bildschirmes spiegelte sich in ihren Brillengläsern. Es sah aus, als liefen in ihren Augen kleine Zahlenkolonnen ab.

»Die Kinderklinik?« vergewisserte sich Kim.

»Du kannst da jetzt nicht hin«, sagte sie. »Aber gut, daß du da bist. Dein Bruder hat kein Wort gesprochen. Wir wissen nicht einmal, wie er heißt. Vielleicht kannst du uns -«

»Das erzähle ich alles den Ärzten drüben«, unterbrach sie Kim und wirbelte herum.

»He!« protestierte die Schwester. »Du kannst doch nicht -«

Natürlich konnte Kim. Und er tat es auch.

Mit ein paar gewaltigen Sätzen durchquerte er die Halle, rannte diesmal wirklich gegen die Glastür, die wieder im Schneckentempo auseinanderglitt, und taumelte auf den Weg hinaus. Die Kinderklinik lag fast am anderen Ende des großen Krankenhausgeländes, aber Kim legte die Entfernung von gut zwei Kilometern in absoluter Rekordzeit zurück. Er war zwar völlig außer Atem, als er die sechsstöckige Kinderklinik erreichte, aber von der Gewißheit erfüllt, sowohl seine Tante als auch irgendeinen anderen möglichen Verfolger mit diesem Sprint abgehängt zu haben.