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»Die Winter sind lang hier«, antwortete Turock. »Und wer weiß, wann wo jemand kommt, der bereit ist für Gastfreundschaft und Hilfe auch ehrliche Arbeit zu leisten? Die Menschen helfen sich heute nicht mehr so gerne wie zu meiner Jugendzeit.«

Nach allem, was Kim gestern mit dem alten Schlitzohr erlebt hatte, wunderte ihn das kein bisschen. Aber er sparte es sich, Turock darauf hinzuweisen. Es hätte nicht viel Sinn gehabt.

»Willst du frühstücken?«, fragte Turock.

Kim war regelrecht überrascht von so viel Großzügigkeit. Allerdings nur so lange, bis er aufstand und sich auf einem der beiden Hocker am Tisch niederließ. Das Frühstück bestand aus einem Becher Wasser und einem Stück harten Brot.

Er verzehrte es klaglos, stemmte beide Ellbogen auf die Tischplatte und bettete das Kinn auf die zusammengefalteten Hände. Seine Augenlider waren so schwer, dass sie von selbst wieder zufielen. Er hatte ganz eindeutig nicht genug geschlafen. »Worauf wartest du noch?«, fragte Turock. »In zwei Stunden wird es hell und wir haben viel zu tun.«

Kim öffnete das linke Auge, starrte den Alten geschlagene fünf Sekunden ungläubig an und sagte dann, so ruhig er konnte: »Es tut mir Leid, Turock, aber ich fürchte, ich kann deine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich habe dir von Themistokles erzählt«, antwortete Kim geduldig. »Ich muss ihn finden! Ich weiß zwar ehrlich gesagt selbst noch nicht genau, warum, aber es ist sehr wichtig. Ich kann nicht bleiben.«

»Du willst also gehen«, vergewisserte sich Turock. »Einfach so. Das hätte ich mir ja gleich denken können!«

»Was meinst du damit?«, fragte Kim.

»Du schuldest mir noch ein paar Stunden Arbeit«, behauptete Turock.

»Ich schulde dir was?«, krächzte Kim.

Turocks Miene verfinsterte sich noch weiter. »Du hast in meinem Haus geschlafen -«

»Auf dem Steinboden!«

»- hast Wasser getrunken -«

»Das ich selbst hierher geschleppt habe!«

»- und mein Essen gegessen«, führte Turock seinen Satz ungerührt zu Ende.

»He, he!«, protestierte Kim. »Dafür habe ich stundenlang geschuftet!«

»Das war für das Mittagsmahl«, sagte Turock. »Du hast noch einmal gegessen. Und gerade Frühstück gehabt. Du bist ein unverschämter fauler Bursche. Wäre ich zehn Jahre jünger, würde ich dir Manieren beibringen.«

»Wärst du dreißig Jahre jünger«, antwortete Kim betont, »würde ich dir so antworten, wie du es eigentlich verdienst. Aber da, wo ich herkomme, zollt man alten Leuten Respekt.«

»Ach?«, machte Turock.

Kim stand auf. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«

Er nahm denselben Weg, den er gestern Abend benutzt hatte und von dem er wusste, dass er direkt zur Quelle führte. Draußen auf der Lichtung war es hell geworden, aber im Inneren des Waldes herrschte beinahe noch Dunkelheit. Außerdem war es hier drinnen so bitterkalt, dass er seinen Atem als grauen Dampf vor dem Gesicht erkennen konnte.

Trotzdem marschierte Kim mit schnellen Schritten los. Bald würde das Licht auch hier hereindringen und dann würde er ausreichend sehen.

Eine halbe Stunde später war er sich dessen nicht mehr sicher. Oben in den Baumwipfeln musste es längst hell geworden sein, aber alles, was den Weg erreichte, war ein blasser grauer Schimmer. Die Bäume schlossen sich über dem Pfad zu einem nahezu undurchdringlichen Dach. Er konnte kaum weiter als zwanzig Schritte sehen.

Das Schlimmste aber war die Stille. Der Wald ragte beiderseits des Weges so massiv wie eine Mauer auf und Kim hörte nicht den geringsten Laut. Selbst das Geräusch seiner eigenen Schritte schien von der ihn umgebenden Dunkelheit aufgefressen und verschluckt zu werden. Es war unheimlich. Hatte er sich am Anfang noch ein Sorgen darüber gemacht in der Dunkelheit des Waldes auf die Pack zu treffen oder gar auf wilde Tiere, so war er bald so weit, sich beinahe zu wünschen, einen der kleinen Quälgeister zu sehen oder wenigstens das Knacken eines Zweiges oder irgendetwas zu hören. Alles wäre besser gewesen als dieses unheimliche, drohende Schweigen. Es war so vollkommen still, als wäre der Wald rechts und links des Weges gar nicht da, sondern nur ein blasser Schatten.

Auch die Quelle ließ auf sich warten. Gestern Abend war ihm der Weg weit vorgekommen, aber heute schien er einfach kein Ende zu nehmen. Er musste schon weit mehr als eine Stunde unterwegs sein und von der Quelle war immer noch nichts zu sehen.

Der Weg nahm kein Ende. Kim schätzte, dass er gute vier Stunden durch diesen unheimlichen Schattenwald marschiert war, ehe es endlich weit vor ihm hell wurde. Der Waldrand! Endlich! Er beschleunigte seine Schritte noch einmal. Auf den letzten zwanzig Metern rannte er beinahe.

Und blieb so abrupt wieder stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.

Vor ihm lag eine kreisrunde, nicht sehr große Lichtung, in deren Mitte sich ein aus grobem Stein erbauter Turm mit einem Pferdestall daran erhob.

Er war wieder da, wo er losmarschiert war!

Kim blieb länger als eine Minute einfach mit offenem Mund stehen und starrte Turocks Turm an. Das war doch völlig unmöglich! Er konnte nicht im Kreis gelaufen sein!

Ganz offensichtlich war er es aber, denn als er seine Erstarrung endlich überwand und weiterging, sah er nicht nur den Turm, sondern auch seinen Besitzer. Turock stand in der Mitte der Lichtung, hatte beide Hände in den Hosentaschen vergraben und grinste schadenfroh.

Kim würdigte ihn keines Blickes, sondern marschierte in scharfem Tempo und mit hoch erhobenem Haupt an ihm vorbei, quer über die Lichtung und auf den Pfad auf der anderen Seite zu. Er war sehr durstig, aber er hätte sich in diesem Moment lieber die Zunge abgebissen statt den Alten nach einem Schluck Wasser zu fragen. Er hatte den falschen Weg genommen - und? In einer Stunde würde er die Quelle erreichen, seinen Durst löschen und dann getrost weitermarschieren.

Das geschah nicht. Stattdessen trat er nach drei oder vier Stunden auf der anderen Seite auf die Lichtung hinaus und wankte mit zitternden Knien auf Turock zu. Der sonderbare Mann hatte einen alten Schaukelstuhl aus dem Turm geschafft, döste Pfeife rauchend in der Sonne und öffnete träge ein Auge, als Kim näher kam.

»Der Weg«, keuchte Kim atemlos.

»Was soll damit sein?«, fragte Turock.

»Er führt nicht aus dem Wald hinaus.«

»Nein«, antwortete Turock. »Tut er nicht.«

»Er führt im Kreis und wieder auf die Lichtung zurück«, vermutete Kim.

»Das stimmt«, sagte Turock.

»Das hättest du mir sagen können«, sagte Kim vorwurfsvoll.

»Du hast nicht gefragt«, antwortete der Alte. »Oder?«

»Und was ist mit der Quelle?«, fragte Kim. »Sie ist verschwunden.«

»Nein«, antwortete Turock. »Du hast nur den falschen Weg genommen.«

»Aber da ist nur ein Weg«, protestierte Kim. Er deutete auf den Pfad, der auf der anderen Seite in den Wald hineinführte. »Ich bin dort hineingegangen -« Er wies mit dem Daumen über die Schulter zurück auf den Pfad, der auf der anderen Seite im Wald verschwand. »- und dort wieder herausgekommen.«

»Das habe ich gesehen«, bestätigte Turock. »Du gehst gerne spazieren, wie?«

Es fiel Kim schwer ruhig zu bleiben, aber irgendwie schaffte er es. »Wie komme ich aus diesem Wald hinaus?«, fragte er.

»Du musst nur den richtigen Weg nehmen«, antwortete Turock und sog an seiner Pfeife.

»Ich habe beide Wege ausprobiert«, antwortete Kim betont. Seine Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn. »Und jedes Mal bin ich wieder hier gelandet. Dieser verdammte Weg führt im Kreis!«

»Nur der eine«, behauptete Turock. »Der andere führt zur Quelle und dann aus dem Wald hinaus.«