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»Ja, Heilige.«

Er warf den Denkern, die er bevorzugte, einen Blick zu und versammelte dann einen kleinen Kreis von Männern um sich. Für kurze Zeit hörte man ihr Gemurmel, bevor sie ihm Platz machten und er selbstbewusst vortrat.

»Erlaube mir, dich zu führen, Heilige«, sagte er unterwürfig.

Imenja nickte den anderen Denkern zu und bedeutete ihnen, dass sie sich ihm anschließen sollten. Als die Armee kehrtmachte, wurde es eng im Tunnel, und das Atmen fiel ihnen merklich schwerer, obwohl die Götterdiener sich bemühten, durch die Spalten und Klüfte im Gebirge frische Luft von der Erdoberfläche herabzuziehen. Diener, Soldaten und Sklaven setzten in besorgtem Schweigen ihren Weg fort.

Unter der Erde war es schwer, das Verstreichen der Zeit richtig einzuschätzen. Da Reivan etliche Monate hier unten verbracht und den anderen Denkern dabei geholfen hatte, Karten von den Minen, den natürlichen Höhlensystemen und den Bergpfaden zu zeichnen, hatte sie inzwischen gelernt, in der Dunkelheit den Überblick zu behalten. Es war fast eine Stunde verstrichen, bevor Grauer den Seitentunnel erreichte, in den er sie führen wollte. Sein Verlangen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, trieb ihn über den neuen Weg voran.

»Hier entlang«, sagte er, während er wieder und wieder seine Karte zu Rate zog. »Hier müssen wir hinuntersteigen.« Die Denker eilten hinter ihm her, als er um eine Ecke bog. »Und dann müssen wir noch ein ganzes Stück in diese Richtung weitergehen…«

Es folgte eine Pause, und kurz darauf hörten sie aus der Ferne einen gellenden Schrei, der schnell wieder verklang. Die Denker liefen um die Ecke und blieben jäh stehen, so dass sie den Durchgang versperrten. Reivan spähte zwischen zwei Schultern hindurch und bemerkte ein gezacktes Loch im Boden.

»Was ist passiert?«

Die Denker traten beiseite, um Imenja durchzulassen.

»Sei vorsichtig, Heilige«, sagte einer von ihnen leise. Imenjas Züge wurden ein wenig weicher, und sie nickte dem Mann kurz zu, bevor sie langsam weiterging.

Sie muss bereits wissen, was Grauer zugestoßen ist, überlegte Reivan. Sie wird seine Gedanken gelesen haben, als er in die Tiefe gestürzt ist.

Imenja ging in die Hocke und berührte den Rand des Lochs. Sie brach ein Stück davon ab, dann erhob sie sich wieder.

»Lehm«, sagte sie und hielt ihn den Denkern hin. »Geformt von Händen und gestärkt von Stroh. Es gibt einen Saboteur. Einen Fallensteller.«

»Die Weißen haben ihre Abmachung gebrochen!«, zischte einer der Denker. »Sie haben nicht die Absicht, uns nach Hause gehen zu lassen.«

»Das ist eine Falle!«, rief ein anderer. »Sie haben gelogen, was die Fallen im Pass betrifft, damit wir diese Route nehmen! Wenn sie uns hier töten, wird niemand wissen, dass sie uns betrogen haben!«

»Ich bezweifle, dass dies ihr Werk ist«, erwiderte Imenja, während sie die Felswände um sich herum einer eingehenden Musterung unterzog. Schließlich schüttelte sie stirnrunzelnd den Kopf. »Dieser Lehm ist trocken. Wer immer das getan hat, ist schon vor Tagen von hier fortgegangen. Ich kann nichts hören als die Gedanken ferner Gaut-Hirten. Wählt einen anderen Führer aus. Wir werden unseren Weg fortsetzen, aber mit großer Vorsicht.«

Die Denker zögerten und tauschten unsichere Blicke. Imenja sah von einem zum anderen, und langsam trat Ärger in ihre Züge.

»Warum habt ihr keine Kopien gemacht?«

Die Karten. Reivan schaute zur Seite und kämpfte eine wachsende Mutlosigkeit nieder. Die Karten sind mit Grauer in die Tiefe gefallen. Wie typisch für ihn, anderen keine Kopien anzuvertrauen.

Was sollen wir jetzt tun? Einen Moment lang stieg Furcht in ihr auf, die jedoch schnell verebbte. Die meisten der größeren Stollen in den Minen führten auf die Hauptstollenöffnung zu. Die Minenarbeiter hatten schließlich, als sie vor langer Zeit die Stollen anlegten, nicht die Absicht gehabt, ein Labyrinth zu schaffen. Die kleineren Stollen, die den Erzadern gefolgt waren, und die natürlichen Höhlensysteme waren weniger berechenbar, aber solange die Armee sich davon fernhielt, würde sie zu guter Letzt den Weg ins Freie finden.

Einer der Denker aus ihrer Gruppe trat vor. »Wir sollten imstande sein, uns mit Hilfe unseres Gedächtnisses zu orientieren; immerhin haben wir im vergangenen Jahr eine beträchtliche Zeit hier verbracht.«

Imenja nickte. »Dann konzentriert euch darauf. Ich werde einige Götterdiener herrufen, die nach Fallen Ausschau halten.«

Obwohl alle Denker dankbar nickten, blieb Reivan eine gewisse Entrüstung bei ihnen nicht verborgen. Sie waren weder stolz noch dumm genug, die Hilfe von Zauberern abzulehnen, und vermutlich war ihnen auch klar, dass ein Teil der Schuld die Götterdiener treffen würde, sollte noch Schlimmeres geschehen. Trotzdem wurden die beiden Götterdiener, die jetzt vortraten, mit Missachtung gestraft.

Hitte erbot sich, die Führung zu übernehmen, und keiner der anderen legte Widerspruch ein. Das Loch wurde in Augenschein genommen, und man stellte fest, dass es sich um einen breiten Riss im Boden, in der Decke und in den Wänden handelte, aber die Kluft war schmal genug, um darüber hinwegzuspringen. Man holte eine Sänfte herbei, die als Brücke genutzt werden konnte, und band das Gepäck den Sklaven, die ihre Lasten ohnehin kaum zu tragen vermochten, auf den Rücken. Die Denker überquerten den Spalt, und die Armee folgte ihnen.

Reivan vermutete, dass sie nicht die Einzige war, die dieses langsame Tempo ungeduldig machte. Sie waren dem Ende ihrer Reise durch die Berge so nahe. Die Stollensysteme auf der hanianischen Seite waren weniger weitläufig und hatten sie zu einem ansonsten unzugänglichen Tal geführt, das von Gaut-Hirten genutzt wurde. Der längere Weg durch die großen natürlichen Höhlen hatte ihnen die Notwendigkeit erspart, über eine steile Anhöhe zu klettern. Von dort aus waren sie einen Tag lang über schmale Bergpfade marschiert. Als sie auf dem Weg zu der Schlacht diesen Teil passiert hatten, waren sie bei Nacht gewandert, so dass die fliegenden Spione ihrer Feinde sie nicht entdecken konnten.

Jetzt brauchten sie nur noch einen Weg durch die Minen auf der sennonischen Seite des Gebirges zu finden, und …

Was? Unsere Probleme liegen hinter uns? Reivan seufzte. Wer weiß, was uns in Sennon erwartet? Wird der Kaiser eine Armee aussenden, die uns den Rest gibt? Wird er das überhaupt nötig haben? Wir haben nur noch wenige Vorräte übrig, und die sennonische Wüste liegt noch vor uns.

Sie hatte sich noch nie so weit von daheim entfernt gefühlt.

Für eine Weile verlor sie sich in frühen Erinnerungen: wie sie in der Schmiedewerkstatt ihres Vaters saß oder ihren Brüdern dabei half, Dinge zu bauen. Sie übersprang die kurze Zeit der Kränkung und des Gefühls, verraten worden zu sein, nachdem man sie den Götterdienern übergeben hatte, und dachte an die Freude, mit der sie lesen und schreiben gelernt und noch vor ihrem zehnten Jahr alle Bücher in der Klosterbibliothek gelesen hatte. Sie hatte alles repariert, angefangen von Wasserrohren bis hin zu Roben, sie hatte einen Apparat zum Abschaben von Häuten erfunden und ein Rezept zum Einmachen von Drimma, das dem Sanktuarium mehr Geld eingetragen hatte als alle anderen Produkte des Klosters zusammen.

Plötzlich stolperte Reivan und verlor beinahe das Gleichgewicht. Sie blickte auf und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass der Boden vor ihr uneben war. Hitte hatte sie in die natürlichen Tunnel gebracht. Sie sah den neuen Anführer der Denker an und bemerkte die vorsichtige Selbstsicherheit seiner Bewegungen.

Ich hoffe, er weiß, was er tut. Aber es scheint so zu sein. Oh, besäße ich doch nur die Fähigkeit der Götterstimmen, Gedanken zu lesen.

Sie dachte an Imenja und hatte mit einem Mal Gewissensbisse. Statt wachsam und nützlich zu sein, war sie in einen Tagtraum verfallen. Von jetzt an würde sie besser Acht geben.

Im Gegensatz zu den höher in den Bergen gelegenen Stollen, die gerade und breit waren, waren die Gänge hier schmal und gewunden. Sie zweigten nicht einfach nur nach links und rechts ab, sondern stiegen in die Höhe und fielen wieder ab, und das häufig sehr unvermittelt. Die Luft wurde immer feuchter und schwerer. Imenja ordnete mehrmals Pausen an, um den Götterdienern Zeit zu geben, frischere Luft herabzuziehen.