Выбрать главу

Ich kann nicht glauben, dass schon ein Jahr vergangen ist, überlegte er. Ein Jahr, seit ich zum Ratgeber der Weißen geworden bin. Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, leuchteten seine Augen auf.

»Wie wirst du das Ende deines ersten Jahres als Weiße morgen feiern?«, fragte er.

»Ich nehme an, wir werden zum Essen zusammenkommen«, erwiderte Auraya. »Und wir werden uns auch im Altar treffen.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht werden die Götter dir persönlich gratulieren.«

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht. Vielleicht werden wir Weißen aber auch unter uns sein.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Juran wird wahrscheinlich auf die Ereignisse des Jahres zurückblicken wollen.«

»Dann hat er aber eine Menge zu tun.«

»Ja«, pflichtete sie ihm bei. »Ich hoffe, dass nicht jedes Jahr meines Lebens als Weiße so aufregend sein wird. Zuerst die somreyanische Allianz, dann meine Zeit in Si, dann der Krieg. Ich hätte nichts dagegen, andere Länder zu besuchen oder nach Somrey und Si zurückzukehren, aber es wäre mir lieber, wenn ich nie wieder in den Krieg ziehen müsste.«

Er verzog zustimmend das Gesicht. »Ich wünschte, ich könnte mit Gewissheit sagen, dass ein weiterer Krieg zu meinen Lebzeiten unwahrscheinlich ist.« Aber das kann ich nicht, beendete er seinen Satz schweigend.

Sie nickte. »Mir geht es genauso.« Wir können nur darauf vertrauen, dass die Götter einen guten Grund hatten, uns zu befehlen, die pentadrianischen Zauberer am Leben zu lassen. Nachdem ihr stärkster Zauberer tot ist, sind die Pentadrianer schwächer als die Zirkler – für den Augenblick. Sie brauchen nur einen Ersatz für ihn zu finden, um abermals zu einer Bedrohung für Nordithania zu werden.

Früher einmal hätte sie sich deswegen keine Sorgen gemacht. So mächtige Zauberer wie die Anführer der Pentadrianer wurden nicht häufig geboren – vielleicht einer in hundert Jahren. Dass fünf solcher Zauberer innerhalb einer Generation in Südithania an die Macht gekommen waren, war außergewöhnlich. Die Weißen konnten es nicht riskieren zu hoffen, dass abermals hundert Jahre verstreichen würden, bevor die Pentadrianer einen Zauberer fanden, der stark genug war, um Kuar zu ersetzen.

Wir hätten die vier Überlebenden töten sollen, dachte Auraya. Aber die Schlacht war vorüber gewesen. Es hätte wie Mord gewirkt. Ich muss zugeben, dass es mir lieber wäre, wenn wir Weißen mehr für unsere Barmherzigkeit bekannt wären als für Skrupellosigkeit. Vielleicht ist das ja auch die Absicht der Götter.

Sie blickte auf den Ring an ihrer Hand hinab. Durch diesen Ring verstärkten die Götter ihre natürliche magische Kraft und verliehen ihr Gaben, die nur wenige Zauberer je besessen hatten. Es war ein schlichter weißer Ring – nichts Außergewöhnliches -, und ihre Hand sah genauso aus wie vor einem Jahr. Viele Jahre würden verstreichen, bevor offenbar wurde, dass sie nicht um einen einzigen Tag gealtert war, seit sie den Schmuck übergestreift hatte.

Die anderen Weißen lebten schon weit länger. Juran war vor über hundert Jahren der Erste gewesen, den die Götter erwählt hatten. Er hatte jeden einzelnen Menschen, den er vor seiner Erwählung gekannt hatte, alt werden und sterben sehen. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, was für ein Gefühl das sein musste.

Dyara war die Nächste gewesen, dann waren in Abständen von jeweils fünfundzwanzig Jahren Mairae und Rian hinzugekommen. Selbst Rian war schon so lange ein Unsterblicher, dass die Menschen, die ihn vor seiner Erwählung gekannt hatten, inzwischen bemerkt haben mussten, dass er seither nicht um einen einzigen Tag gealtert war.

»Ich habe Gerüchte gehört, nach denen der sennonische Kaiser seinen Bündnisvertrag mit den Pentadrianern nur wenige Stunden nach ihrer Niederlage zerrissen haben soll«, sagte Danjin. »Weißt du, ob das der Wahrheit entspricht?«

Auraya blickte zu ihm auf und kicherte. »Dann breitet sich das Gerücht also aus. Wir sind uns noch nicht sicher, ob es wahr ist. Der Kaiser hat nach der Unterzeichnung des Vertrags all unsere Priester und Priesterinnen aus Sennon fortgeschickt, daher war keiner von ihnen dort, um zu bezeugen, ob er ihn zerrissen hat oder nicht.«

»Anscheinend war ein Traumweber dort«, sagte Danjin. »Hast du in letzter Zeit einmal mit Traumweberratgeberin Raeli gesprochen?«

»Nicht mehr, seit wir zurückgekehrt sind.« Seit dem Krieg hatte sie, wann immer die Rede auf die Traumweber kam, das Gefühl, als berühre jemand eine verheilende Wunde. Bei solchen Gelegenheiten wandten sich ihre Gedanken stets Leiard zu.

Eine Flut von Erinnerungen schlug über ihr zusammen, und sie wandte den Blick ab. Einige dieser Erinnerungen zeigten den weißhaarigen, bärtigen Mann, der in dem Wald in der Nähe ihres Heimatdorfs gelebt hatte – den Mann, der sie so vieles über Heilmittel, die Welt und die Magie gelehrt hatte. Andere Erinnerungen stammten aus jüngerer Zeit und galten dem Mann, den sie – dem allgemeinen Vorurteil der Zirkler gegen ihre vermeintlichen Widersacher zum Trotz – zu ihrem Ratgeber in Angelegenheiten der Traumweber ernannt hatte. Dann neckte ihr Geist sie mit Erinnerungen an intimere Augenblicke: die Nacht vor ihrem Aufbruch nach Si, als sie ein Liebespaar geworden waren, die Traumvernetzungen, in denen sie einander ihr Begehren übermittelt hatten, und die heimlichen Treffen in seinem Zelt, als sie beide getrennt in die Schlacht gezogen waren – sie, um zu kämpfen, er, um die Verwundeten zu heilen.

Und schließlich überlief sie ein Frösteln, als ihr ein Bild des Bordelllagers in den Sinn kam. Sie hatte Leiard dort gefunden, nachdem Juran ihre Affäre entdeckt und ihn fortgeschickt hatte. Sie konnte ihn noch immer vor ihrem inneren Auge sehen, von oben betrachtet, während die Zelte von goldenem Morgenlicht überhaucht waren.

Der Gedanke, den sie von ihm aufgefangen hatte, wiederholte sich in ihren eigenen Gedanken. Es ist nicht so, dass ich Auraya nicht für attraktiv oder klug oder freundlich halten würde. Sie ist nur all diesen Ärger einfach nicht wert.

Er hatte in gewisser Weise recht gehabt. Ihre Affäre würde unweigerlich einen Skandal nach sich ziehen, wenn sie öffentlich bekannt würde. Es war selbstsüchtig, ihrem eigenen Vergnügen nachzujagen, wenn es bedeutete, dass andere dafür würden leiden müssen.

Dieses Wissen hatte den Schock nicht gemildert, dass sie an diesem Tag in seinen Gedanken keine Liebe, kein Bedauern gefunden hatte. Die Liebe, die sie so viele Male bei ihm gespürt und für die sie so viel riskiert hatte, war gestorben, allzu leicht getötet von Furcht. Ich sollte Juran dafür dankbar sein, sagte sie sich. Wenn Leiard seine Liebe so leicht der Furcht zu opfern bereit war, dann hätte ohnehin irgendjemand oder irgendetwas diese Liebe früher oder später getötet. Wer eine Weiße liebt, muss stärker sein. Beim nächsten Mal werde ich mir keinen so schwachen Mann aussuchen, und je eher ich Leiard vergesse, umso eher werde ich jemanden finden, der… der

Was? Sie schüttelte den Kopf. Es war noch zu früh, um an einen neuen Geliebten zu denken. Wenn sie sich wieder verliebte, würden ihre Gefühle sie dann abermals zu verantwortungslosen, schändlichen Taten hinreißen? Nein, sie sollte sich besser mit ihrer Arbeit beschäftigen.

Danjin beobachtete sie geduldig, und mit seinem Verdacht, worüber sie nachdenken mochte, kam er der Wahrheit nur allzu nahe. Sie richtete sich auf und sah ihm in die Augen.

»Hast du mit Raeli gesprochen?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Wir haben ein- oder zweimal ein paar Worte gewechselt, aber nicht zu diesem Thema. Möchtest du, dass ich sie danach befrage?«

»Ja, aber nicht vor dem morgigen Treffen am Altar. Wir werden gewiss über Sennon reden, und die anderen Weißen werden die Wahrheit vielleicht bereits kennen.« Sie blickte noch einmal auf den Brief des Kaufmanns hinab. »Ich werde vorschlagen, dass wir Priester und Priesterinnen nach Si schicken.«