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Ich weiß, dass Andrej selten Besuch bekommt. Seine Landsleute kennen ihn und haben einfach keine Lust auf die unendlichen Monologe, und seine einheimischen Nachbarn halten ihn wahrscheinlich für verrückt, weil er sie ständig auf der Treppe anspricht. Mehrmals lud er sie schon zu sich ein, sie blieben aber hart und lehnten alle Einladungen ab. Die ersten Einheimischen, die seine Wohnung betraten, waren die Zeugen Jehovas vor etwa einem Monat: zwei Männer und eine Frau. Sie fragten Andrej freundlich, ob sie nicht reinkommen dürften.

»Wir werden Ihre kostbare Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Wir wollen mit Ihnen nur kurz über Gott und die Welt reden«, sagten sie.

Andrej freute sich riesig. »Das ist aber ein sehr großes Thema, das hat mich immer schon interessiert«, meinte er und zerrte die drei in seine Wohnung. Danach habe ich das Trio nie wieder gesehen. Manchmal hört man komische Geräusche aus der Russen-WG, als würde dort ein Chor singen. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Zeugen Jehovas sich noch immer irgendwo in der Wohnung befinden. Zum einen war das im August angekündigte Gesprächsthema tatsächlich sehr umfangreich angelegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Andrej so schnell damit fertig wird. Zweitens kauft er in letzter Zeit deutlich mehr ein. Und drittens hat er mir selbst eine Bestätigung für meinen Verdacht geliefert. Als ich ihm neulich wieder auf der Treppe begegnete, wagte ich die provokante Frage: »Wie geht es den Zeugen?« Andrej wurde rot im Gesicht und benahm sich wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wurde: »Welchen Zeugen?«, murmelte er und wollte zum ersten Mal das Gespräch nicht mehr weiterführen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Andrej der deutschen Gesellschaft drei Zeugen Jehovas entzogen hat und sie nun zu seinem Privatgebrauch benutzt. Ob so etwas hierzulande strafbar ist, weiß ich allerdings nicht.

Der 7. Tibeter

Auf unseren Spaziergängen durch Berlin landeten meine russische Nachbarn, meine Frau Olga und ich einmal zufällig in Kreuzberg. Es war gerade Mittagszeit und Sergej schlug vor, in einem vor kurzem eröffneten Restaurant was zu essen. Das Lokal hieß Der 7.Tibeter, es handelte sich dabei um ein kleines Restaurant mit original tibetischer Küche, und das Personal wirkte ebenfalls original tibetisch. Die Speisekarte war kurz und knapp formuliert, ökologisch bewusst, aber bescheiden, ohne ausgefallene Vorspeisen und Zwischengänge und diesen ganzen überflüssigen Schickschnack. Eigentlich typisch für diese Gegend. Wenn Berlin ein Planet wäre, dann wäre Kreuzberg sein Tibet. Nicht umsonst wird ausgerechnet hier das tibetische Neujahrsfest gefeiert, angeführt von Nina Hagen und anderen Abgespaceten.

Die Speisekarte des 7. Tibeters las sich wie eine Parodie auf die kulinarische Vielfalt. Man hatte mindestens drei Dutzend Gerichte im Angebot, doch das meiste lief auf dasselbe hinaus - auf Teigtaschen. Es gab gedünstete Teigtaschen, gebratene Teigtaschen, Teigtaschen mit Fleisch und Gemüsefüllung, gekocht, frittiert, scharf und weniger scharf, mit und ohne Salat. Dazu Rotwein. Oder zur Abwechslung Weißwein. Meine Frau konnte mit der tibetischen Küche nicht viel anfangen.

»Das sind doch alles Pelmenis, wie sie jede Oma in Sibirien macht«, meinte sie rebellisch. »Das haben diese Bergleute alles den Russen abgekuckt.«

»Was würden Sie uns empfehlen?«, fragte ich die hübsche Kellnerin um Rat.

»Wir haben sehr viele Gerichte«, sagte sie, »aber die meisten Gäste entscheiden sich für Teigtaschen.«

Das wunderte uns überhaupt nicht. Ohne lange zu überlegen, entschieden wir uns wie die anderen Gäste. Sergej nahm die gedünsteten, Andrej die gebratenen Teigtaschen, meine Frau und ich blieben beim Wein. Die Kellnerin notierte gewissenhaft unsere Bestellung auf einem Block, um die Teigtaschen nicht zu verwechseln und verschwand in der Küche. Wir rätselten währenddessen über den geheimnisvollen Namen des Ladens. Der 7.Tibeter, das klang nach einer Geschichte.

»Eine alte Legende«, meinte Sergej. »Ich erinnere mich dunkel daran. Die Blavatskaja und Rerich haben darüber berichtet. Auf dem höchsten Berg Tibets, weit über den Wolken, sitzen seit einer Ewigkeit sechs Weise und warten auf den siebten. Nur gemeinsam können sie den Menschen die Wahrheit und den Sinn des Daseins offenbaren. Jeder von ihnen besitzt einen Teil dieser Wahrheit. Aber einer ist verschwunden - mit dem siebten Tibeter. Im Grunde warten wir alle darauf, dass er zurückkommt.«

»Wo ist er denn hin?«, fragte meine Frau. »Was sagt die Legende?«

»Das weiß ich nicht, ich habe es vergessen«, winkte Sergej ab. »Er ist wahrscheinlich vom Berg gestiegen, um frische Teigtaschen zu holen, hat es aber auf dem Rückweg nicht ausgehalten und unterwegs alle aufgegessen. Daraufhin konnte er sich vor Scham nicht mehr auf dem Gipfel blicken lassen. Denn kaum käme er dort an, würden ihn die anderen sechs fragen: ›Na, wo sind unsere Teigtaschen, du Tibeter?‹«

»Und so wandert er seit einer Ewigkeit durch die Welt und findet nirgends Ruhe, während seine Freunde auf dem Berg verhungern und die Menschheit weiter im Dunkel des Unwissens umherirrt. Und schuld daran sind nur die Teigtaschen«, spannen wir gemeinsam die Geschichte zu Ende.

Der Koch brachte unsere Bestellung persönlich an den Tisch.

»Dürfen wir Sie etwas fragen?«, erkundigte ich mich höflich.

»Natürlich«, nickte er.

»Wer oder was ist der siebte Tibeter? Klären Sie uns bitte auf!«

»Ich bin’s«, sagte der Koch und lachte. »Ich bin der siebte Tibeter, das heißt der siebte Mensch aus Tibet, der hier eine Aufenthaltgenehmigung bekommen hat. Vor mir waren es nur sechs. Es gab zwar noch einen siebten, aber dessen Asylantrag wurde abgelehnt, er kam dann ein Jahr später unter einem anderen Namen wieder. Aber da war er schon der zwölfte. Und ich bin der siebte!«, lächelte der Koch stolz.

Etwas enttäuscht von der Prosa des Lebens, aßen wir die Teigtaschen auf und verließen das Lokal.

Wer ist Deutschland?

Als ich zusammen mit meiner Frau und den Kindern vor drei Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit samt Personalausweis errang, bekamen wir mehrere Merkblätter mit auf den Weg, deren Empfang wir quittieren mussten. Das erste Merkblatt hieß Über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Warum sollen wir sie verlieren, wenn wir sie gerade erst bekommen hatten?, wunderte ich mich. Weil in Deutschland keine doppelte Staatsangehörigkeit geduldet wird. Meine Frau und ich sind aus der Sowjetunion nach Deutschland ausgewandert. Unsere sowjetischen Pässe wurden uns noch von der letzten DDR-Regierung, die uns aufgenommen hatte, entzogen. Wir haben seitdem zwar nie wieder einen russischen Pass angestrebt, waren aber juristisch gesehen russische Bürger geblieben. Deswegen mussten wir, um in Deutschland eingebürgert zu werden, den Austritt aus der russischen Staatsangehörigkeit beantragen, die wir de facto nicht mehr besaßen. Die Botschaft der russischen Föderation sagt den Betroffenen in solchen Fällen, sie sollen »nach Hause fahren« und sich dort an das russische Innenministerium wenden. Die meisten haben jedoch längst kein Zuhause in der alten Heimat mehr. Sie haben ihre Wohnungen verschenkt, verkauft oder an den Staat verloren.

Dabei geht es nicht um Einzelfälle, sondern um Zehntausende. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht hat natürlich eine Ausnahme für diese Fälle vorgesehen. Diejenigen, die hier als Kontingentflüchtlinge anerkannt wurden, können sich die Mühe sparen, einen Nachweis ihrer Staatenlosigkeit zu erbringen. Sie werden a priori als Staatenlose behandelt und können in Deutschland nach Erfüllung einiger anderer notwendiger Kriterien eingebürgert werden. Dazu bekommen sie das Merkblatt Über den Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit. Wenn Sie im Ausland jemals in Schwierigkeiten geraten, sollten Sie sich nicht an die deutschen Behörden wenden, sondern an die Ihres ursprünglichen Heimatlandes.