Andrej schob eine Platte nach der anderen in seinen CD-Player. Erst um drei Uhr nachts kehrte ich unsicheren Schritts in meine Wohnung zurück und konnte noch lange danach nicht einschlafen. Kaum schloss ich die Augen, schon quakten die Frösche im Himmel, Elefanten trompeteten, Libellen summten, und der ganzkörpertätowierte Onkel meines Nachbarn lächelte mir von einem vergilbten Foto zu.
Mongolian Standard
Wir haben letzte Woche auf dem Falkplatz in Berlin gegrillt. Einmal im Monat veranstalte ich eine solche kulinarische Orgie auf diesem Platz neben dem Mauerpark gegenüber von unserem Haus. Vorher fahre ich zum türkischen Fleischer meines Vertrauens in den Wedding und kaufe dort zwei bis drei Lammkeulen, schäle zu Hause ein Dutzend Zwiebeln und lege das Fleisch für zwei Tage in einer handgemachten Marinade aus Weiswein, Pfeffer, Zwiebeln und Zitronen in einen speziellen Topf ein. Die geladenen Gäste, in der Regel sind es um die zwanzig Russen mit Familie und ein paar Deutsche mit Russenknall, bringen zum Fleisch passenden Alkohol, Salate und Wassermelonen mit. Die Gäste treffen mit ihren Flaschen natürlich nicht gleichzeitig ein, sondern nacheinander, und mit jedem muss ich als Gastgeber anstoßen. Eine alte russische Sitte besagt, es dürfen auf einer Feier weder Essen noch Getränke übrig bleiben, wenn doch, wird man verhungern bzw. verdursten. Damit dieses Unglück nicht passiert, muss alles aufgegessen und ausgetrunken werden.
Es war schon immer eine große Kunst für mich, nach diesen Partys einigermaßen gerade nach Hause zu kommen und mit dem Schlüssel das Schlüsselloch zu treffen. Auf jeden Fall war dies eine größere Herausforderung, als das Fleisch vorzubereiten. Aber ich kannte einen Trick. Ich mischte Wein mit Wasser und ließ mich zu keinem anderen Getränk überreden. Bis jetzt ist mir das fast immer gelungen. Letztes Mal hatte ich jedoch die Idee, mit meinen Nachbarn nach der Grillparty noch eine Cocktailbar zu besuchen, die vor kurzem neben einer vietnamesischen Sushi-Bar bei uns um die Ecke aufgemacht hat. Die Sushi-Vietnamesen sind nebenbei bemerkt ehemalige Zigarettenverkäufer von der Schönhauser Allee, die wegen des Nichtrauchergesetzes aus ihrem illegalen Business ausgestiegen und in das legale Sushi-Geschäft eingestiegen waren. In der Cocktailbar arbeiten auch Asiaten, deswegen dachte ich automatisch, beide Läden würden zusammengehören.
In der Cocktailbar hingen drei Fotos in Übergröße: Greta Garbo, Marlene Dietrich und in der Mitte Yuri Gagarin in der Uniform eines Oberst der sowjetischen Armee. Die Chefin hörte uns russisch reden und setzte sich zu uns. Sie erklärte uns, dass ihre Bar rein gar nichts mit den Sushi-Vietnamesen zu tun habe. Ihr Partner sei Deutscher, sie selbst komme aus der Mongolei und beschäftige aus Prinzip nur Landsleute. Wir saßen also in einer mongolischen Cocktailbar, mitten in Ost-Berlin und sprachen von den alten Zeiten.
»Die Mongolen und die Russen waren schon immer Freunde, wir haben den Mongolen oft geholfen und ihnen zum Beispiel unser Alphabet überlassen oder zur Erntezeit Mähdrescher geschickt«, erinnerten wir die Bar-Chefin. Und so wurden aus zwei Cocktails drei. Wir sprachen vom letzten mongolischen Generalsekretär, der mit einer russischen Ballerina verheiratet war. Sie hat ein wunderbares Buch über die Mongolei geschrieben und war in der Mongolei sehr beliebt. Aus drei Cocktails wurden vier. Ich fiel schon beinahe vom Hocker, da holte die Chefin plötzlich eine Flasche mongolischen Wodka der Marke Mongolian Standard aus dem Kühlschrank. Flüssige Kopfschmerzen aus der Steppe. Doch die russisch-mongolische Freundschaft ging natürlich über alles. Zu viert leerten wir die Flasche. Greta Garbo und Marlene Dietrich schnitten die ganze Zeit Grimassen, Gagarin zwinkerte uns zu.
Am nächsten Tag gallopierte in meinem Kopf eine ganze Dschingis-Khan-Horde durch eine Steppe, die ganz sicher vom Mongolian Standard verursacht worden war. Kein deutsches Aspirin war der Attacke gewachsen. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren, denn in Gedanken war ich noch immer in dieser mongolischen Cocktailbar. Ich versuchte, mich an Einzelheiten des Abends zu erinnern. Die Chefin hatte uns ihren sogenannten Dschingis-Khan-Fleck zeigen wollen, den angeblich alle Asiaten auf dem Hintern hatten. Eine Deutsche, die sich zu uns gesellt hatte, meinte dazu, auch sie hätte einen solchen Fleck, obwohl sie nie in Asien war. Ich entgegnete, die Russen hätten auch etwas, und zwar einen großen Impffleck auf der linken Schulter, damit erkennen sie einander am Strand oder im Bett. Ich konnte mich jedoch nicht erinnern, ob wir einander die Flecke gezeigt oder nur damit gedroht hatten. Das Ambiente und das ganze Gespräch erinnerten mich auf jeden Fall stark an meine Heimat. Es ist klar: Wenn wir das nächste Mal Heimweh bekommen, gehen wir zu Gagarin in die mongolische Cocktailbar.
Deutsch als Spritze
Nicht nur in Amerika und Europa, auch unter den Russen bildet sich derzeit eine neue Harry-Potter-Generation: Menschen, die fest an Wunder glauben. Sie sind bereit, jede Anstrengung, die von ihnen verlangt wird, durch einen Zaubertrick zu ersetzen. Auch dann, wenn ihnen der Zaubertrick letztlich noch größere Anstrengungen abverlangt. Um beispielsweise festzustellen, ob es draußen regnet, schauen sie lieber ins Internet als aus dem Fenster.
Mein Nachbar Andrej gehört auch zu diesen Leuten, obwohl er vom Alter her durchaus der Vater von Harry Potter sein könnte. Seit einem Jahr arbeitet er bei einer deutschen Internetfirma, und seine Chefs sind mit ihm sehr zufrieden, weil er fleißig ist und nie Überstunden abrechnet. Nur eines finden seine Chefs bedauerlich: dass der Mann schon so lange in Deutschland lebt und noch immer nur einen Satz auf Deutsch kann: »Tschüss, bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Popkonzert.« Das sagt Andrej jeden Tag zum Abschied. Seine Chefs wundern sich, aber ich finde es völlig normal. Woher soll Andrej mehr Deutsch können, wenn er die letzten Jahre vor dem Monitor verbracht hat und alle Kommunikationsprobleme hier mit seinem Schulenglisch leicht lösen kann?
Der deutsche Satz, den er aus irgendeiner Radiosendung aufgeschnappt hat, nervt seine Kollegen total. Unaufdringlich versuchten sie ihn zu überzeugen, doch noch ein paar zusätzliche Äußerungen dazu zu lernen. »Du bist intelligent, du schaffst es«, ermunterten ihn seine Chefs vor zwei Wochen und schickten ihn in unbezahlten Urlaub. Andrej fühlte sich daraufhin von den Kollegen verraten und in seiner Existenz bedroht. In eine Sprachschule zu gehen, kam für ihn nicht in Frage.
»Das ist pure Zeitverschwendung«, meinte er. »Es muss doch eine Alternative geben, die einem den Einstieg in eine Fremdsprache innerhalb kürzester Zeit ermöglicht«, sinnierte er bei uns in der Küche.
»Aber natürlich gibt es so etwas«, bestätigte ich und zeigte ihm eine Annonce in der russischsprachigen Zeitung, die bei uns seit Monaten für gute Laune sorgt: »Geheime Kreml-Medizin wird zum Gemeingut des Volkes: Erlernen Sie eine Fremdsprache in 24 Stunden. Deutsch als Spritze« stand da. In einem kleinen Werbetext erwähnt der Anbieter geheime Medikamente, die man früher zur Unterstützung des regierenden Parteiapparats in sowjetischen Forschungslaboren entwickelt hatte. Auf diese Weise lernte beispielsweise Gorbatschow Englisch, und Jelzin konnte sich dadurch mit Kohl unter vier Augen unterhalten - behauptet jedenfalls der Anbieter. Ich hielt diese Annonce schlicht für eine Verarschung. Andrej hatte auch seine Zweifel. Er glaubte nicht, dass sich Gorbatschow sein Englisch hatte einspritzen lassen: »Dafür hat er einen viel zu starken Akzent.«
In der Annonce stand zwar, dass man unmittelbar nach der Injektion eine Fremdsprache sprechen kann, aber nirgendwo war erwähnt, dass jemand sie auch verstand. Wir saßen bei mir in der Küche und amüsierten uns über all die Leichtgläubigen, die sich das Zeug schon gespritzt hatten und sich nun selbst nicht mehr verstanden. Plötzlich stieß Andrej auf eine andere kleine Annonce, die ich übersehen hatte: »Tausende danken Doktor Hoffmann! Deutsch unter Hypnose: Ohne Sprachschule und ohne besondere Vorkenntnisse lernen Sie Deutsch in 30 Stunden!«, behauptete der Doktor. Sein Kurs »Selbstlernen unter Hypnose« kostete nur 159,- Euro plus Versandkosten. Dafür bekäme man ein Buch des Autors, eine Audiokassette und ein Meditationsobjekt, um sich selbst zu hypnotisieren. Auf dem Photo sah Doktor Hoffmann sehr seriös aus. »An Ihren Wahrnehmungszentren vorbei wird die Fremdsprache direkt auf die Festplatte Ihres Unterbewusstseins gespeichert«, stand unter dem Bild.