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So verging das Leben. Sergej studierte Politologie, rappte, boxte, lernte weiter Deutsch und versuchte in der übrig gebliebenen Zeit, den deutschen Touristen zu helfen. Das war nicht leicht. Der eine wollte Hilfsgüter in ein Waisenhaus bringen und sie eigenhändig unter den bedürftigen Kindern verteilen, damit die Erwachsenen nichts für sich abgriffen. Sergej fuhr mit ihm zusammen zu einem Kinderheim, in dem die Not am größten war. Sie verteilten die Güter, und als sie die Räume dort in schlechtem Zustand vorfanden - im Schlafzimmer war sogar ein Loch in der Decke -, sorgte der Deutsche dafür, dass das Dach repariert wurde. Ein anderer Tourist wollte unbedingt Tschernobyl besuchen, um die Natur nach der Explosion des AKW zu beobachten und beispielsweise zu sehen, wie groß die Würmer geworden waren. Sergej fand ein Loch im Zaun, der seit 1987 geschlossenen Anlage und sie kletterten hindurch. Ein dritter Tourist wollte unbedingt mit Einheimischen um die Wette saufen: Sergej stellte sich ihm als Mittrinker zur Verfügung. Ein vierter wollte ein einheimisches Mädchen mit Riesenbrüsten aus einem Bordell retten: Sergej half ihm bei den Verhandlungen. Es war nie langweilig mit den Deutschen.

Einmal kam ein alter Mann aus Norddeutschland, der unbedingt einen Kriegsveteranen kennenlernen wollte, am liebsten einen, der auch noch in Gefangenschaft gewesen war. Der Tourist war selbst Kriegsveteran. Er hatte irgendwo in den Wäldern von Weißrussland gegen Partisanen gekämpft, war gefangen genommen worden und hatte nach dem Krieg sechs Jahre in einem sibirischen Lager überlebt. Der einfachste Weg, diesen Touristen glücklich zu machen, wäre, ihn zu Sergejs eigenem Großvater zu bringen. Dieser war ebenfalls im Krieg gewesen und besaß Orden und Auszeichnungen bis zu den Knien. Seine Uniform zog er allerdings nicht einmal am Tag des Sieges an. Sergejs Großvater war 1941 mit seiner Einheit in den Kessel bei Rowno geraten, war dann bei den Partisanen, wurde verhaftet und kam in ein KZ. Anders als die meisten Kriegsgefangenen musste er jedoch nach der Befreiung nicht auch noch einige Jahre in sowjetischen Lagern absitzen. In der Familie galt er als schwieriger Mensch mit einem leichten Knall. Er redete wenig, und vom Krieg erzählte er gar nichts. Er weigerte sich, seine Kriegsverletzungen untersuchen zu lassen, und er weigerte sich, die Granatsplitter, die er vom Krieg im Körper zurückbehalten hatte, entfernen zu lassen. Er meinte, die Granatsplitter seien ein Teil seines Körpers geworden. Sein Enkelkind liebte er über alles.

Einmal wollte der kleine Sergej unbedingt mit dem Jagdgewehr seines Großvaters schießen. Draußen saßen Gäste, die Familie feierte gerade ein Jubiläum. »Dann lass uns hier drin schießen«, quengelte der Junge. Der Großvater konnte einfach nicht nein sagen - und schoss mit Schrot in den Ofen, der daraufhin neu gesetzt werden musste. Die Oma und die anderen Frauen schrien vor Angst und Wut, aber der Großvater zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Das Enkelkind darf einmal schießen.« Bei Tisch aß der Großvater nur mit seinem Kriegslöffel, den er aus dem deutschen Lager mitgenommen hatte. Er gab ihn nie aus der Hand, und niemand durfte den Löffel des Großvaters anfassen, außer Sergej. Der Löffel war von allen Seiten abgekaut, dünn, fast durchsichtig und auf der unteren Seite war ein Hakenkreuz eingraviert.

Sergej wusste nicht, wie sein Großvater auf den deutschen Touristen reagieren würde, ging aber das Risiko ein. Sein Plan war, mit dem Deutschen zusammen bei ihm aufzukreuzen, ihr Gespräch zu übersetzen und dann je nach dem, was kam, zu handeln. Sein Großvater ließ sie in die Wohnung, verschwand in der Küche, kam mit einer Halbliterflasche Wodka zurück, verteilte den Inhalt der Flasche auf zwei Gläser und gab eines dem Touristen. Beide leerten ihre Gläser in einem Zug, schauten einander in die Augen und weinten. Danach umarmten sie sich, und der Deutsche ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Überhaupt war während des ganzen Treffens kein einziges Wort gefallen und Sergejs Übersetzerfähigkeiten nicht gefordert worden.

Am nächsten Tag traf er den Deutschen wieder. Dieser lud Sergej ein, ihn in seiner Heimatstadt Vechta zu besuchen. So kam Sergej zum ersten Mal nach Deutschland. Die Stadt fand er klein und hässlich, aber alle sprachen Deutsch, und es gab sogar eine Universität, die kleinste Deutschlands. Der Kriegsveteran, der ihn eingeladen hatte, galt in Vechta ebenfalls als Mann mit einem Knall - mit einem Russenknall. Während die meisten in der Stadt dicke Autos fuhren, raste er auf einem sowjetischen Motorrad der Marke Ural durch die Gegend, das stank und Krach machte. Auch hatte er sein Haus nicht im norddeutschen Stil, sondern mit Ornamenten nach russischer Art geschmückt.

Sergej beschloss, erst einmal ein Paar Semester in Deutschland zu studieren. Er immatrikulierte sich an der dortigen Universität, schrieb sich für BWL ein und blieb. Geld zum Leben verdiente er in einer Fabrik, die Verpackungslinien für Hühnereier produzierte. Das Studium gefiel ihm gut, die Stadt weniger. Er ging lieber in den Wald oder zum Sport als in eine Kneipe. Kaum war er mit dem Studium fertig, zog er zuerst nach Köln und dann nach Berlin. Mir erzählte er, er fühle sich in Deutschland manchmal wie ein Partisan. Wie der Nachkomme eines Partisanen.

Erdbeeren mit Sahne

Wenn in bundesdeutschem Kontext von Berlinern die Rede ist, dann heißt es fast immer, sie würden meckern. Damit wird der Zustand permanenter Unzufriedenheit und Lebensenttäuschung als einer Berliner Eigenart hervorgehoben. Anderswo sind die Menschen rundum glücklich und zufrieden. Selbst wenn ihnen eine Taube auf den Kopf kackt, lächeln sie dem Vogel dankbar hinterher und fühlen sich in die Geheimnisse der Natur eingeweiht.

Meine Erfahrung ist: Nicht die Berliner, sondern alle, die im Sozialismus aufgewachsen sind, beschweren sich dauernd über alles Mögliche. Bulgaren, Rumänen, Serben, sie alle fühlen sich verraten und verkauft, ganz zu schweigen von meinen Landsleuten, die sich selbst am stärksten bemitleiden. Man hat sie verführt, ihnen das große Glück versprochen, und das sogar zweimaclass="underline" das allgemeine Glück des Kommunismus, das sich nie in ein persönliches Kleinbürgerglück verwandeln durfte und überhaupt im realen Leben nie eintraf. Und dann die linkische Lottofortune des Kapitalismus, deren einziges klares Versprechen darin bestand, die früheren Versprechungen endgültig abzulösen.

Nichts von alldem hat funktioniert. Deswegen gehen meine Landsleute nun als ewig Unzufriedene durch die Welt und meckern. Das Bett ist für sie immer zu hart, das Brot zu trocken, das Wetter zu schlecht. Für eine glückliche Zukunft, egal wie sie aussehen mag, sind sie hoffnungslos verloren. Sie wissen, alles war schon einmal da und obendrein noch besser. Dafür liebe ich sie.

Gestern in der Herbsthitze fuhr mir mein Nachbar Andrej auf dem Fahrrad über den Weg.

»Kannst du mir sagen, was das soll? Bin ich etwa nach Spanien emigriert?«, schimpft er.

Ich schüttelte nur den Kopf und sagte nichts. Es war ja sowieso eine rhetorische Frage. Spanien hätte Andrej nie Asyl gewährt.

»Ich habe doch extra Deutschland ausgewählt, wegen der ausgeglichenen Wetterverhältnisse, damit ich nach dem regnerischen und feuchten Petersburg nicht gleich in die Sonne komme. Und nun das, 32 Grad im Schatten! Mir geht dieser Klimawandel schwer auf den Geist. Soll ich jetzt etwa nach Norwegen auswandern oder nach Grönland? Ich kenne dort niemanden, was sind das für Menschen, diese Norweger? Wie leben sie, was lieben sie?«