Выбрать главу

Plötzlich donnerte und blitzte es über unseren Köpfen, die ersten Regentropfen fielen auf den grauen Asphalt. Wir verabschiedeten uns schnell. Andrej fuhr weiter, seine Unzufriedenheit blieb aber auch nach seinem Abtauchen im Regen hängen wie ein Überbleibsel aus alter Zeit, ein Appendix des Sozialismus, der sich nicht herausoperieren lässt. Egal was passiert, wir werden immer meckern. Wie in der alten sozialistischen Anekdote, in der ein Pionier seinen Lehrer fragt, was Kommunismus eigentlich ist. Der Lehrer bemüht sich, den Kommunismus in einer kindgerechten Sprache zu erklären.

»Kommunismus ist«, sagt er, »wenn du jeden Tag zum Frühstück Erdbeeren mit Sahne essen wirst.«

»Ich mag aber keine Erdbeeren mit Sahne«, erwiderte der Schüler.

»Das ist egal, du wirst sie trotzdem essen«, klärt ihn der Pädagoge auf.

Gespräche über die Ewigkeit

Mein Freund Sergej feierte seinen dreiunddreißigsten Geburtstag im engen Kreis seiner Freunde und Familienangehörigen. Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an meinen eigenen dreiunddreißigsten Geburtstag, der im bedeutungsvollen Jahr 2000 stattfand. Damals schien mir das Leben, sein abenteuerlicher Teil zumindest, endgültig aus und vorbei zu sein. Aber ich hatte mich geirrt, die Abenteuer fingen da erst an. Bei meinem Freund schlug sich der dreiunddreißigste Geburtstag in pathetischen Gefühlsausbrüchen nieder. Wir tranken Hochprozentiges und sinnierten dabei über die Ewigkeit.

»Nein, nein, ich möchte auf keinen Fall ewig leben, dadurch macht man sich in den Augen der Mitmenschen nur lächerlich«, philosophierte Sergej. »Als Ewiglebender umgeben von Sterblichen wird man in jeder anständigen Gesellschaft schnell zur Vogelscheuche. Niemand wird mit einem solchen Menschen etwas zu tun haben wollen. Wenn du willst, dass deine Gäste schnell nach Hause gehen, lade einen Unsterblichen ein und bitte ihn, etwas Lustiges über sein ewiges Leben zu erzählen. Spätestens nach zehn Minuten wird die Party zu Ende sein«, so sah das mein Freund.

Ich stimmte ihm zu. Ein ewiges Leben als Greis konnte ich mir auch nicht vorstellen. Aber beispielsweise siebzig Jahre lang dreiunddreißig zu sein, das konnte ich mir sehr gut vorstellen. Kein Teenager mehr, ein reifer, aber vom Leben noch nicht frustrierter Mann, kein Langweiler, aber ein Romantiker geblieben, das wäre cool. Also sagte ich:

»Wenn mir eine höhere Macht zwei Optionen zur Auswahl anbieten würde: das ewige Leben als Greis oder siebzig Jahre lang dreiunddreißig, würde ich mich, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen die Ewigkeit, aber für die verlängerte Jugend entscheiden. Ja, das würde ich tun.«

»Ich nicht«, widersprach Sergej. »Eine solche Jugend ist auf Dauer nicht cool, sie ist sogar ziemlich blöd. Als ich mit siebenundzwanzig nach Deutschland kam, war ich allein und nur auf mich selbst gestellt. Ich hatte keine Arbeit, keine Familie, nicht einmal richtige Freunde, nur einen BWL-Studienplatz, den ich noch aus eigener Tasche finanzieren musste. Ich dachte damals: Bloß die Ruhe bewahren, alles wird gut. Mein Vorbild war der unrasierte Mann aus dem Fernsehwerbespot, der für Jever Reklame machte. Abend für Abend fiel er mit dem Rücken in die Sanddüne, eine Flasche Bier in der Hand. Er war wie ich ganz allein in seiner norddeutschen Sandwüste: keine Staus, keine Freunde, keine Kompromisse, kein anderes Bier. Er gehörte zu meinen ersten Eindrücken aus diesem Land und war lange Zeit mein einziger Freund hier. Einer, mit dem ich mich austauschen könnte. Ich hatte eine Einzimmerwohnung mit Bett und Fernseher. Jeden Abend machte ich die Glotze an, und er war fast immer für mich da. Fast immer. Manchmal lief der Werbespot nicht. Seinetwegen bin ich sogar für eine kurze Zeit tatsächlich von Hefeweizen auf Jever umgestiegen, so gut gefiel mir dieser Mann.

Wir hatten vieles gemeinsam, vor allem diese Lebenseinstellung eines einsamen Wolfs. In ihm sah ich einen, der in den Sanddünen verloren gegangen war. Kein Geld, kein Gepäck, kein Ausweg. Ich war mehrmals in Ostfriesland, auch in Jever und in den umliegenden Dörfern. Es gab dort weit und breit keine einzige Düne. Selbst das hat mich nicht enttäuscht. Ich fühlte mich trotzdem mit dem in den Sand fallenden Mann im Geiste verbunden. Unsere Einsamkeit machte uns zu Brüdern - kein Bafög, kein guter Job, kein Dispo. Es hat gerade fürs Leben gereicht. Dann habe ich, du weiß schon wen, kennengelernt, bin umgezogen, wir zogen zusammen, es lief nicht immer gut, aber ab da war mein Lebensgefühl ein anderes. Und wenn ich heute zurückblicke, gut, ich bin sechs Jahre älter geworden, ein bloßes Sekündchen angesichts der Ewigkeit. Aber es hat sich so viel verändert in meinem Leben, und manches sogar zum Guten. Der Jever-Mensch aber ist der Gleiche geblieben, er fällt weiter in den Dünen um, mit der gleichen Flasche in der Hand, mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck, er hat denselben Mantel an, und nichts hat sich in seinem Leben verändert: keine Frauen, keine Kinder, keine Freunde, keine Ahnung, wie er das durchhält.«

 Die Mutter (nicht von Gorki)

Sergejs Mutter wurde von ihrem langjährigen Lebensgefährten, einem dicken lebensfrohen weißrussischen Sparkassenchef, sitzengelassen.

»Irina«, meinte er zum Abschied bedrückt, »ich habe eine ungeheuere Leidenschaft kennengelernt und muss nun mit diesen neuen Gefühlen klarkommen. Du hast Format, du bist eine großartige Frau, warte auf mich, wenn du kannst.«

Der freiwillige Nachrichtendienst aus der Nachbarschaft berichtete; die ungeheure Leidenschaft sei ein zwanzigjähriges Mädchen mit riesiger Oberweite. Irina packte die Koffer und fuhr nach Berlin zu ihrem Sohn, den sie sehr lange nicht gesehen hatte. Sergej freute sich natürlich, nur hatte er jede Menge zu tun - zwei Jobs, ein Studium und dazu nun noch eine Mutter in der Krise. Anfangs fiel diese Mutter in dem allgemeinen Chaos nicht auf. Sie verbrachte die meiste Zeit in der Küche und sang leise vor sich hin - russisches Volksliedgut:

Wenn ich sterbe, Wenn ich sterbe, Und begraben werde, Keine Sau weint eine Träne Mir nach...

Sie braucht dringend einen neuen Freund, dachten wir und brachten unseren Nachbarn auf die Idee, eine Annonce in der russischsprachigen Zeitung aufzugeben: »Sympathische Frau aus Russland, 53 Jahre alt, würde gern einen intelligenten, einfallsreichen, sensiblen Mann ab 45 kennenlernen - und nicht irgendeinen selbstgeilen Fettarsch.« Bereits einen Tag nach Erscheinen der Zeitung kamen die ersten Anrufe. Irina ging nicht ans Telefon, aber ihre Stimmung verbesserte sich erheblich. Sie saß nicht mehr wie ein Trauerkloß in der Küche, sondern lief in der Wohnung herum und sang halblaut einen alten sozialistischen Schlager:

Alles ist möglich, alles zum Greifen nah...

»Irina, Sie dürfen diese Menschen nicht einfach so abblitzen lassen, gehen Sie doch ran«, sagten wir immer wieder zu ihr.

Nach zwei Tagen ging sie tatsächlich ran.

»Ja! Nein! Was denn für eine Anzeige? Sie haben sich bestimmt verwählt. Wie heißen Sie noch mal? Aus Nowosibirsk? Wie interessant, ich war mal in Nowosibirsk...«

Er war der erste Mann, der Irinas Vertrauen gewinnen konnte: ein gewisser Iwan aus Nowosibirsk, Champion im Biathlon 1969. Irina verabredete sich mit ihm, kam aber an dem Tag nicht aus der Wohnung. Sie polierte sich in der Küche die Fingernägel und sang andere optimistische Schlager aus der Sowjetzeit.

»Vielleicht war das dein Schicksal, Mama«, bemerkte Sergej vorsichtig, »Vielleicht ruft er nicht mehr an.«