Plötzlich tritt Sarhan al-Buheri zu mir, grüßt, setzt sich und sagt dann: »Wie schön, Sie zu treffen! Gestatten Sie, daß ich mich von Ihnen verabschiede. Sie waren nicht da, als ich die Pension verließ.«
»Wollen Sie abreisen?« frage ich ihn erschrocken.
»Ja«, sagt er mit seiner dröhnenden Stimme, »mein Aufenthalt hier geht zu Ende. Wenn ich fortgegangen wäre, ohne mich von Ihnen zu verabschieden, so hätte mir das allerdings mein ganzes Leben lang leid getan!«
Ich bedanke mich für seine Liebenswürdigkeit. Mir drängen sich viele Fragen auf, aber er läßt mich nicht mehr zu Wort kommen, denn er winkt jemandem zu, schüttelt mir die Hand und geht.
Unruhig und traurig frage ich mich, was nun wohl aus Zuchra wird.
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Der Angeklagte rüttelte an den Stäben seines Käfigs, als er das Urteil hörte, und schrie, so laut er konnte, in den Gerichtssaaclass="underline" »Wie wirst du dich jetzt über meine Situation freuen, Danaf[46], und du, Na'ima, du Offiziershure!«
Als ich in die Pension zurückkomme, finde ich Madame, Tolba Marzuq und Zuchra im Entree beisammen, befangen in einer Traurigkeit, die eine deutlichere Sprache spricht als laute Schmerzensschreie oder heftige Klagen. Ich setze mich schweigend zu ihnen. Mir ist inzwischen klargeworden, was ich eigentlich den anderen hatte fragen wollen.
Madame sagt: »Endlich hat dieser Sarhan seine Maske fallen gelassen!«
»Er kam vor ein paar Stunden im Trianon zu mir und sagte, daß er die Pension verlassen würde«, murmle ich.
»Die Wahrheit ist: Ich habe ihn hinausgeworfen.«
Dann, mit einer Handbewegung zu Zuchra: »Er ist schamlos über sie hergefallen, hat sie verprügelt und dann verkündet, er werde jetzt die Lehrerin heiraten.«
Ich schaue zu Tolba. Der sieht mich an und spottet: »So hat er sich schließlich doch noch fürs Heiraten entschieden!«
»Mir hat er nie gefallen«, meint Madame. »Ich habe ihn vom ersten Moment an durchschaut. Ein ausgemachter Halunke!«
»Monsieur Mansur Bahi wollte ihn zur Rede stellen«, fährt sie dann fort, »und da gab es plötzlich eine weitere Schlägerei. Ich habe ihm ins Gesicht geschrien, daß er für immer verschwinden soll.«
Mitleidig schaue ich zu Zuchra. Ich bin mir sicher, daß das Spiel zu Ende ist und der Übeltäter ungestraft entkommen. Mein Zorn ist so groß wie in jenen bitteren Tagen der Vergangenheit.
»Er ist ein hundsgemeiner Kerl«, versuche ich Zuchra zu trösten, »und hat es nicht verdient, daß du ihm nachtrauerst.«
Als ich mit Tolba Marzuq allein bin, sage ich zu ihm:
»Wenn sie doch den Heiratsantrag von Machmud Abul-Abbas angenommen hätte!«
Er entgegnet wie jemand, der seinen Gesprächspartner aus Träumen reißen möchte: »Aber Mann! Welcher Machmud denn? Haben Sie immer noch nicht begriffen, daß ihr etwas Unersetzliches verlorengegangen ist? Ihre Jungfräulichkeit!«
Ich runzle protestierend die Stirn und fühle mich gleichzeitig überrumpelt.
»Wo haben Sie denn Ihren Verstand gelassen, Alter?« spottet er. »Wo bleibt denn da Ihr Scharfsinn?«
»Zuchra ist keine von denen!«
»Gott erbarme sich Ihrer Arglosigkeit!«
Einerseits bin ich ihm böse, andererseits hege ich doch Zweifel. Tieftraurig denke ich: Das arme Mädchen!
Tolba Marzuq fährt fort: »Madame war die erste, die mich auf die Beziehung zwischen den beiden aufmerksam gemacht hat, aber ich hatte das gar nicht nötig.«
»Sie hat eine verdorbene Phantasie.«
»Wie Sie wissen, ist sie immer bereit, entweder sie zu beschützen oder aber sie auszubeuten.«
»Sie tut weder das eine noch das andere«, brause ich auf, »das kann ich beschwören.«
Dann kommt unsere Begegnung am Nachmittag, traurig, bewegend. Sie bittet mich, ich solle sie nicht an meine Ratschläge von früher erinnern, sie nicht tadeln oder schelten. Ich unterlasse das alles und empfehle ihr statt dessen, sie solle ihrer Zukunft mit dem Mut entgegensehen, der ihr so gut anstünde.
»Sag mir, Zuchra, hat dein Eifer, etwas zu lernen, nachgelassen?«
»Ich werde eine andere Lehrerin finden!« entgegnet sie entschlossen, aber ohne jede Begeisterung.
»Wenn du irgendwelche Hilfe brauchst…« Sie lehnt sich gegen mich und küßt mich leicht auf die Schulter, dann beißt sie sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Ich strecke meine von dicken Adern durchzogene, wie gegerbt wirkende Hand aus, streiche ihr zärtlich über das schwarze Haar und murmle: »Gott beschütze dich, Zuchra!«
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Ich bleibe an diesem Abend in meinem Zimmer und gebe meiner völligen Erschöpfung nach. Die Müdigkeit hält mich noch einige Tage lang dort fest. Dann muntert mich Madame auf, meine Schwäche zu überwinden, um die bevorstehende Silvesternacht zu feiern.
»Wollen wir sie im Monseigneur verbringen, wie Tolba Bey vorgeschlagen hat«, fragt sie mich während dieses Gesprächs, »oder hier?«
»Hier ist es besser, meine Liebe«, murmle ich ohne große Begeisterung.
Wie oft hatte ich diese Nacht im Sault's, im Groppi, im Tausendundeiner Nacht und im Lipton-Garten[47] verbracht. Es gab aber auch ein Jahr, da erlebte ich sie als Häftling im Militärgefängnis der Zitadelle.
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Am dritten Morgen meines Rückzugs aufs Zimmer kommt Madame in höchster Aufregung hereingestürzt und ruft, ganz außer Atem: »Haben Sie schon das Neueste gehört?« Sie läßt sich in den großen Sessel fallen: »Sarhan al-Buheri ist ermordet worden!«
»Was?« rufe ich.
»Er wurde auf der Straße nach Palma ermordet aufgefunden.«
Tolba Marzuq kommt hinter ihr her, hält voller Nervosität die Zeitung in der Hand und kommentiert: »Eine höchst unangenehme Nachricht! Sie wird uns Probleme schaffen, die wir jetzt noch gar nicht absehen können!«
Ohne zu einem Ergebnis zu kommen, erörtern wir die Angelegenheit nach allen Richtungen, prüfen alle Möglichkeiten, denken an die erste Verlobte Sarhans, an Husni Allam, Mansur Bahi, Machmud Abul-Abbas. Abschließend meint Madame: »Vielleicht ist der Mörder aber auch ein ganz anderer, auf den wir nie kommen würden.«
»Warum nicht?« rätsle ich. »Schließlich wissen wir so gut wie nichts von dem jungen Mann, weder von seiner Vergangenheit noch von seinen Kontakten, noch von seinen Lebensumständen.«
Madame ist voller Unruhe: »Ich hoffe nur, daß man den Mörder so schnell wie möglich findet und daß wir absolut nichts mit ihm zu tun haben und auch, daß kein Polizistengesicht hier auftaucht!«
»Das hoffe ich ebenfalls aus ganzem Herzen!« unterstützt sie Tolba Marzuq.
Ich frage nach Zuchra, und Madame sagt seufzend: »Die Sache hat sie schwer mitgenommen. Das könnt Ihr mir glauben. Das arme Mädchen!«
»Kann ich sie nicht sehen?« frage ich bekümmert.
»Sie ist völlig verstört in ihrem Zimmer und hat die Tür hinter sich zugeschlossen.«
Noch einmal erörtern wir die Angelegenheit nach allen Seiten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Ich schließe die Augen und höre immer wieder Seine Worte:
Was auf der Erd' ist, muß vergehn,
Und nur das Antlitz deines Herrn wird bestehn,
Das herrlich ist zu nennen;
Welche Gnad' eures Herrn wollt ihr verkennen?[48]
II. Husni Allam
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