»Ausgezeichnet, gnädige Frau. Das wäre dann alles.«
Erhobenen Hauptes schritt sie hinaus, und die Silberstreifen ihres Haares glänzten im Sonnenlicht. Dann kam Jack Renauld. Auch er bewies in zwanglosester Weise, daß er die Identität des Mannes nicht feststellen könne.
Giraud stöhnte. Ob aus Vergnügen oder Mißbehagen, konnte ich nicht feststellen. Er rief nach Marchaud.
»Brachten Sie die andere hierher?«
»Ja, Monsieur.«
»Die andere« war Madame Daubreuil. Empört trat sie ein und widersetzte sich voll Heftigkeit.
»Ich erhebe Einspruch, Monsieur! Das ist eine Beleidigung! Was habe ich mit all dem zu tun?«
»Madame«, sagte Giraud brutal, »ich führe eine Untersuchung nicht nur wegen eines, sondern wegen zweier Morde! Und nach allem, was mir bekannt ist, könnten Sie beide Verbrechen begangen haben.«
»Wie können Sie sich unterstehen ... !« schrie sie. »Wie dürfen Sie mich durch eine so arge Beschuldigung beschimpfen? Das ist unerhört!«
»Unerhört ist es? Und was ist das?« Er beugte sich nieder, löste nochmals das Haar von dem Dolch und hielt es in die Höhe. »Sehen Sie das, Madame?« Er trat auf sie zu. »Sie gestatten, daß ich - vergleiche.«
Kreidebleich fuhr sie mit einem Schrei zurück: »Es ist nicht wahr, ich schwöre es. Ich weiß nichts von dem Verbrechen - von keinem der beiden Verbrechen. Wer etwas anderes behauptet, lügt. Oh, mein Gott, was soll ich tun?«
»Sich beruhigen, Madame«, sagte Giraud kühl. »Bisher klagt Sie noch niemand an. Aber Sie werden gut tun, meine Fragen ohne weitere Umstände zu beantworten.«
»Alles, was Sie wünschen, Monsieur.«
»Betrachten Sie den Toten. Kennen Sie ihn?«
Als sie näher trat, kehrte etwas Farbe in ihre Wangen zurück. Madame Daubreuil sah lange auf den Toten. Dann schüttelte sie den Kopf: »Ich kenne ihn nicht.«
Es schien unmöglich, ihre Worte zu bezweifeln, die ganz natürlich klangen. Giraud entließ sie mit einem Kopfneigen.
»Sie lassen sie gehen?« fragte ich leise. »Ist das klug? Sicher stammt das schwarze Haar von ihrem Kopf.«
»Ich brauche keine beruflichen Belehrungen«, versetzte Giraud trocken. »Sie steht unter Überwachung. Ich will sie jetzt noch nicht verhaften.« Dann blickte er wieder stirnrunzelnd auf den Leichnam. »Halten Sie ihn überhaupt für einen Spanier?« fragte er plötzlich.
Ich betrachtete das Gesicht sehr sorgfältig. »Nein«, sagte ich endlich. »Ich würde ihn ganz entschieden für einen Franzosen halten.«
Giraud äußerte sein Mißvergnügen: »Immer dasselbe. Einen Augenblick stand er ruhig, dann schob er mich gebieterisch beiseite und begann noch einmal den Boden auf allen vieren abzusuchen. Er war bewunderungswürdig. Nichts entging ihm. Zoll um Zoll des Bodens ging er durch, er drehte jeden Blumentopf um, durchsuchte alte Säcke. Er stürzte sich auf ein Bündel bei der Tür; als er sich aber überzeugt hatte, daß es nur einen zerlumpten Rock und Beinkleider enthielt, schleudert er es brummend beiseite. Zwei Paar alte Handschuhe erregten seine Aufmerksamkeit, aber schließlich schüttelte er den Kopf und legte sie fort. Dann begab er sich wieder zu den Blumentöpfen und wendete systematisch einen nach dem anderen um. Schließlich erhob er sich und schüttelte nachdenklich den Kopf. Er schien verblüfft und gereizt. Ich glaube, er hatte meine Anwesenheit vergessen.
Nun ließen sich draußen eilige Schritte und Stimmen vernehmen, und unser alter Freund, der Untersuchungsrichter, mit seinem Schreiber, M. Bex und der Arzt kamen herein.
»Aber das ist ja unglaublich, Monsieur Giraud«, rief M. Hautet. »Noch ein Verbrechen! Der Fall wird ja immer verworrener! Wer ist der Tote?«
»Das eben kann uns niemand sagen, Monsieur. Er wurde bis jetzt nicht identifiziert.«
»Wo ist die Leiche?« fragte der Arzt.
Giraud trat ein wenig zur Seite. »Dort in der Ecke. Er ist ins Herz gestochen, wie Sie bemerken können. Und mit dem Dolch, der gestern früh entwendet wurde. Ich denke, daß der Mord knapp nach dem Diebstahl erfolgte - aber an Ihnen ist es, dies festzustellen. Sie können den Dolch nach Belieben drehen, es sind keine Fingerabdrücke darauf.«
Der Arzt kniete an der Seite des Toten nieder, und Giraud wandte sich dem Untersuchungsrichter zu.
»Nettes, kleines Rätsel, nicht? Doch ich will es lösen.«
»Und da niemand ihn identifizieren kann«, bemerkte der Richter, »könnte es nicht vielleicht einer der Mörder sein? Vielleicht haben sie sich überwerfen?«
Giraud schüttelte den Kopf: »Der Mann ist Franzose - ich möchte einen Eid darauf schwören -«
Aber in diesem Augenblick wurden sie durch den Arzt unterbrochen, der mit verblüfftem Gesicht auf seinen Fersen hockte. »Sie meinen, daß er gestern früh ermordet worden sei?«
»Ich schätze, so nach dem Diebstahl des Dolches«, erklärte Giraud. »Er könnte allerdings auch erst später am Tage ermordet worden sein.«
»Später am Tage? Dieser Mann ist mindestens achtundvierzig Stunden tot, und möglicherweise noch länger.« Wir blickten uns in starrem Staunen an.
15
Was der Doktor sagte, klang so erstaunlich, daß wir zu träumen wähnten. Hier lag ein Mann, von einem Dolch durchbohrt, der erwiesenermaßen erst vor vierundzwanzig Stunden gestohlen worden war, und nun behauptete Dr. Durand nachdrücklich, daß dieser Mann schon achtundvierzig Stunden tot sein müsse. Das Ganze schien phantastisch bis zum äußersten. Wir hatten uns von dem Staunen über des Doktors Eröffnung noch nicht erholt, als mir ein Telegramm überreicht wurde. Es war mir vom Hotel zur Villa nachgeschickt worden. Ich riß es auf. Poirot meldete mir seine Rückkehr mit dem Zuge, der um 12 Uhr 28 Minuten in Merlinville eintraf.
Ich blickte auf die Uhr und sah, daß mir eben noch Zeit blieb, um gemächlich zum Bahnhof zu schlendern, um ihn abzuholen. Ich fühlte, wie überaus wichtig es war, daß er sofort von der neuen und überraschenden Wendung der Dinge Kenntnis erhielt.
Augenscheinlich, überlegte ich, hatte - Poirot in Paris ohne Schwierigkeiten das gefunden, was er suchte. Die Schnelligkeit seiner Rückkehr bewies das. Nur wenige Stunden hatten genügt. Ich war begierig, wie er die aufregende Neuigkeit aufnehmen würde.
Der Zug verspätete sich um einige Minuten, und ich wanderte planlos auf dem Perron auf und nieder, bis mir einfiel, daß ich die Zeit damit ausfüllen könne, einige Fragen über jene Passagiere zu stellen, die in der verhängnisvollen Nacht Merlinville mit dem letzten Zuge verlassen hatten.
Ich machte mich an einen der Beamten heran, und es gelang mir ohne erhebliche Schwierigkeiten, ein Gespräch über dieses Thema mit ihm anzuknüpfen. Es sei eine Schmach für die Polizei, erhitzte er sich, daß solche Räuber und Mörder frei umherliefen. Ich gab der Vermutung Ausdruck, daß sie vielleicht mit dem Zug um Mitternacht abgereist sein könnten, was er mit großer Bestimmtheit zurückwies. Zwei Fremde? Die hätte er bemerkt - da könne ich beruhigt sein. Nur ungefähr zwanzig Personen seien mit diesem Zuge abgereist, und Unbekannte wären ihm bestimmt aufgefallen.
Ich weiß nicht, wieso mir der Einfall kam - vielleicht beeinflußt von der großen Angst, die aus Marthe Daubreuils Stimme geklungen hatte -, aber ich fragte plötzlich: »Reiste nicht auch der junge Renauld mit diesem Zuge?«
»Ach nein, Monsieur. Es ist wohl nicht gut möglich, innerhalb einer halben Stunde anzukommen und wieder abzureisen!«
Ich starrte den Mann an. Zuerst erfaßte ich die Bedeutung seiner Worte nicht ganz. Dann begriff ich.
»Wollen Sie damit sagen«, fragte ich, und mein Herz schlug schneller, »daß Monsieur Jack Renauld an jenem Abend in Merlinville ankam?«