»Aber ja, Monsieur, mit dem letzten Zug aus der entgegengesetzten Richtung, um 11 Uhr 40.«
Ich taumelte fast. Dies also war die Ursache von Marthes heftiger Angst. Jack Renauld war in der Nacht des Verbrechens in Merlinville gewesen. Aber warum gestand er es nicht ein? Weshalb veranlaßte er uns zu glauben, daß er in Cherbourg geblieben war? Wenn mir sein offenes, knabenhaftes Auftreten einfiel, konnte ich mich nicht zu dem Glauben durchringen, daß er in irgendeinem Zusammenhang mit dem Verbrechen stehen könne. Doch weshalb verschwieg er dann eine so überaus wichtige Tatsache? Eines war gewiß, Marthe hatte es schon die ganze Zeit über gewußt. Daher ihre Furcht und ihre Frage an Poirot, ob irgend jemand verdächtigt werde.
Die Ankunft des Zuges unterbrach meinen Gedankengang, und einen Augenblick später begrüßte ich Poirot. Der kleine Mann war in bester Laune. Er strahlte und sprach laut auf mich ein, er umarmte mich vor allen Leuten, trotz meiner englischen Zurückhaltung, die er völlig vergessen zu haben schien.
»Mein lieber Freund - ich hatte Erfolg - fabelhaften Erfolg!«
»Wirklich? Ich freue mich sehr, das zu hören. Weißt du schon das Neueste von hier?«
»Woher sollte ich es wissen? Gab es neue Entwicklungen? Hat der wackere Giraud jemanden verhaftet? Oder vielleicht gar mehrere? Der wird Augen machen! Aber wohin fuhrst du mich, mein Freund! Gehen wir denn nicht ins Hotel? Ich muß meinen Schnurrbart in Ordnung bringen, der durch die Hitze der Fahrt sehr gelitten hat. Dann ist mein Rock gewiß auch sehr staubig. Und meine Krawatte wird frisch gebunden werden müssen.«
Kurzerhand unterbrach ich seine Vorstellungen.
»Mein lieber Poirot - was macht das alles. Wir müssen sofort zur Villa. Es ist noch ein Mord verübt worden.«
Oft schon hatte ich Enttäuschungen erlebt, wenn ich meinem Freunde wichtige Mitteilungen machte. Entweder bedeuteten sie ihm nichts Neues, oder er nahm sie als belanglos auf die leichte Achsel - und dann gaben ihm die Ereignisse immer recht. Aber diesmal konnte ich nicht darüber klagen, daß ich zu wenig Eindruck gemacht hätte. Noch niemals sah ich einen so entgeisterten Menschen. Sein Plaudern verstummte. Alle Munterkeit schwand aus seinem Wesen. Er starrte mich mit offenem Munde an.
»Was sagst du da? Noch ein Mord? Ach, dann habe ich ja unrecht. Dann habe ich mich geirrt. Giraud mag sich nur über mich lustig machen - er wird Grund dazu haben!«
»Du hast das also nicht erwartet?«
»Ich? Nicht im entferntesten. Es vernichtet meine Theorie - es vernichtet alles - es - o nein! Es ist unmöglich. Ich kann mich nicht geirrt haben! Die Tatsachen, wenn man sie systematisch nimmt, und ihre wirkliche Aufeinanderfolge lassen nur eine Erklärung zu. Ich muß recht haben! Ich habe recht!«
»Aber dann -«
Er unterbrach mich: »Warte, mein Freund. Ich muß recht haben, daher ist dieser neue Mord unmöglich - außer - außer -o warte. Ich beschwöre dich. Sag kein Wort.« Er schwieg ein Weilchen, dann verfiel er wieder in seine normale Art und sagte mit ruhiger, zuversichtlicher Stimme: »Das Opfer ist ein Mann mittleren Alters. Sein Leichnam wurde in dem versperrten Schuppen in der Nähe des ersten Tatortes gefunden. Er war mindesten schon achtundvierzig Stunden tot. Höchstwahrscheinlich kam er auf die gleiche Art ums Leben wie Monsieur Renauld, aber er muß nicht auch von rückwärts erstochen worden sein.«
Nun war es an mir, ihn anzugaffen - und ich tat es. Soweit ich mich entsinnen konnte, hatte Poirot noch nie etwas so Erstaunliches geleistet. Und fast unvermeidlich schossen mir Zweifel durch den Kopf.
»Poirot«, schrie ich, »du hältst mich zum besten. Du wusstest schon alles.«
Doch er blickte mich ernst und vorwurfsvoll an. »Würde ich so etwas tun? Ich versichere dir, daß ich nichts dergleichen hörte. Merktest du denn nicht, wie sehr die Nachricht mich erschütterte?«
»Aber wie, um Himmels willen, konntest du das alles wissen?«
»So hatte ich recht? Ich wußte es ja. Die kleinen grauen Zellen, mein Freund, die kleinen grauen Zellen erzählten es mir. So - und nur so - läßt sich der zweite Todesfall erklären. Nun erzähle mir alles. Wenn wir hier linksherum gehen, können wir über den Golfplatz den Weg abkürzen und wir kommen direkt, nur viel schneller hinter der Villa Genevieve heraus.«
Während wir den von ihm empfohlenen Weg einschlugen, erzählte ich ihm alles, was ich wußte. Poirot lauschte aufmerksam.
»Der Dolch stak in der Wunde, sagst du? Das ist merkwürdig. Bist du ganz sicher, daß es der gleiche war?«
»Ganz sicher. Dadurch erscheint es ja so unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich. Vielleicht gab es zwei Dolche.« Ich zog meine Augenbrauen hoch. »Das ist doch im höchsten Grade unwahrscheinlich. Das wäre doch ein außergewöhnliches Zusammentreffen.«
»Du sprichst wie Immer ohne Überlegung, Hastings. In manchen Fällen wären zwei völlig gleiche Waffen höchst unwahrscheinlich. Aber hier nicht. Diese eigenartige Waffe ist ein Kriegsandenken, das auf Jack Renaulds Bestellung angefertigt wurde. Es ist wirklich höchst unwahrscheinlich, wenn du darüber nachdenkst, daß er nur eine bestellt hat. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß er auch eine zu seinem eigenen Gebrauch besaß.«
»Aber niemand erwähnte dergleichen«, warf ich ein. Ein leise belehrender Unterton schwang durch Poirots Worte:»Mein Freund, wenn man einen Fall ausarbeitet, zieht man nicht nur die Dinge in Erwägung, die erwähnt wurden. Es gibt manchmal keine Veranlassung, Dinge zu erwähnen, die wichtig sein könnten. Und ebenso bestehen andererseits oft triftige Gründe, sie nicht namhaft zu machen. Du hast die Wahl zwischen diesen beiden Ursachen.«
Ich schwieg.
Wenige Minuten später hatten wir die berüchtigte Hütte erreicht. Wir fanden dort alle unsere Freunde, und nach Austausch höflicher Liebenswürdigkeiten ging Poirot ans Werk.
Da ich Giraud bei der Arbeit beobachtet hatte, war ich außerordentlich neugierig. Poirot warf nur einen oberflächlichen Blick auf die Umgebung. Das einzige, was er untersuchte, war das Bündel mit den zerrissenen Kleidungsstücken bei der Tür. Giraud lächelte geringschätzig, und als ob Poirot es bemerkt hätte, warf er das Bündel wieder fort.
»Wohl alte Kleider des Gärtners?« fragte er.
»Ganz richtig«, sagte Giraud.
Poirot kniete neben der Leiche nieder. Seine Finger arbeiteten flink, doch systematisch. Er untersuchte das Gewebe der Kleider und verschaffte sich Gewißheit, daß keine Spuren an ihnen zu finden waren. Die Schuhe überprüfte er besonders sorgfältig, ebenso die schmutzigen und gebrochenen Fingernägel.
Während er den letzteren seine Aufmerksamkeit schenkte, fragte er Giraud schnelclass="underline" »Sahen Sie die Nägel?«
»Ja«, erwiderte der andere. Sein Antlitz blieb undurchdringlich.
Plötzlich blieb Poirot starr.
»Doktor Durand!«
»Bitte?« Der Arzt trat näher.
»Da ist Schaum auf den Lippen. Bemerkten Sie das?«
»Ich muß zugeben, daß mir das nicht aufgefallen ist.«
»Doch jetzt sehen Sie es?«
»Ja, natürlich.«
Poirot befragte Giraud aufs neue.
»Sie bemerkten es doch sicher?«
Der andere blieb die Antwort schuldig. Poirot fuhr in der Arbeit fort. Die Waffe war aus der Wunde entfernt worden. Sie ruhte in einem Glaskrug neben dem Leichnam. Poirot untersuchte sie und prüfte dann gründlich die Wunde. Als er aufsah, blitzten seine Augen vor Erregung und leuchteten in dem grünen Licht, das ich so gut kannte.
»Ist das aber eine seltsame Wunde! Sie hat nicht geblutet. Es ist kein Fleckchen an den Kleidern. Nur die Klinge des Dolches ist ein wenig fleckig, das ist alles. Was halten Sie davon, Doktor?«
»Ich kann nur sagen, daß das Höchst anomal ist.«
»Es ist durchaus nicht anomal. Es ist äußerst einfach. Der Mann wurde nach seinem Tode erstochen.« Und nachdem er durch eine Handbewegung die erregten Stimmen zum Schweigen gebracht hatte, wandte Poirot sich an Giraud und fragte: »Monsieur Giraud ist doch meiner Ansicht?«