»Georges Conneau«, sagte ich entschlossen. »Richtig. Nun stellt Giraud den Grundsatz auf, daß eine Frau lügt, um entweder sich oder den geliebten Mann oder ihr Kind zu retten. Da wir überzeugt sind, daß Georges Conneau ihr diese Lügen vorschrieb und Georges Conneau nicht Jack Renauld ist, entfällt die dritte Voraussetzung von selbst. Ferner macht die Annahme, daß Georges Conneau das Verbrechen entwarf, auch die erste Voraussetzung hinfällig. So müssen wir uns zur zweitem bequemen - daß Madame Renauld um des Mannes willen log, den sie liebte - oder mit anderen Worten - um Georges Conneaus willen. Sind wir uns darin einig?«
»Ja«, gab ich zu. »Es scheint durchaus logisch.«
»Gut! Madame Renauld liebt Georges Conneau. Wer ist daher Georges Conneau?«
»Der Landstreicher.«
»Haben wir irgendeinen Grund zur Annahme, daß Madame Renauld den Landstreicher liebte?«
»Nein, aber -«
»Also? Klammere dich nicht an Theorien, die sich nicht aufrechterhalten lassen. Frage dich statt dessen, wen Madame Renauld liebte.«
Ich schüttelte erstaunt den Kopf.
»Aber ja, du weißt es genau. Wen liebte Madame Renauld so sehr, daß sie leblos hinsank, als sie seine Leiche erblickte?«
Ich starrte ihn sprachlos an.
»Ihren Gatten?« hauchte ich.
Poirot nickte.
»Ihren Gatten - oder Georges Conneau, wie du es vorziehst, ihn zu nennen.«
Ich suchte mich zu fassen.
»Aber das ist ja unmöglich.«
»Wieso unmöglich? Waren wir nicht gerade einer Ansicht, daß Madame Daubreuil in der Lage war, Erpressung an Georges Conneau zu üben?«
»Ja, aber -«
»Und erpreßte sie nicht genug von Monsieur Renauld?«
»Das mag richtig sein, aber -«
»Und ist es nicht richtig, daß wir von Monsieur Renaulds Jugend und Erziehung nichts wissen? Und daß er plötzlich, genau vor zweiundzwanzig Jahren, als Franke-Kanadier, ins Leben tritt?«
»All das ist richtig«, sagte ich sicherer, »aber du scheinst einen wichtigen Punkt zu übersehen.«
»Welchen, mein Freund?«
»Nun, wir stellten doch fest, daß Georges Conneau das Verbrechen entwarf. Das bringt uns zu der lächerlichen Voraussetzung, daß er seine eigene Ermordung plante!«
»Richtig, mein Freund«, sagte Poirot gelassen, »das tat er auch in Wirklichkeit!«
21
Und Poirot fuhr fort: »Es erscheint dir seltsam, mon ami, daß ein Mann seinen eigenen Tod vorbereiten könne? So seltsam, daß du es vorziehst, die Wahrheit als zu phantastisch zu verwerfen, um dich an eine Geschichte zu klammern, die in Wirklichkeit noch zehnmal unwahrscheinlicher ist. Ja, Monsieur Renauld entwarf einen Plan für seinen Tod, mit einer Einschränkung aber, die dir vielleicht entgeht - daß er beabsichtigte, am Leben zu bleiben.«
Verblüfft schüttelte ich den Kopf.
»Sieh doch, es ist wirklich ganz einfach«, sagte Poirot ruhig. »Das Verbrechen, das Monsieur Renauld ausdachte, bedurfte keines Mörders, wie ich dir schon sagte, sondern nur eines Leichnams. Lassen wir die Ereignisse nochmals an uns vorüberziehen, aber betrachten wir sie diesmal von einem anderen Gesichtspunkt.
Georges Conneau flieht vor der Gerechtigkeit nach Kanada. Dort heiratet er unter falschem Namen und erwirbt schließlich in Südamerika ein beträchtliches Vermögen, aber die Sehnsucht nach der Heimat läßt ihn nicht ruhen. Zwanzig Jahre sind indessen verflossen, sein Äußeres hat sich naturgemäß stark verändert, außerdem ist es unwahrscheinlich, daß man in einem sozial so hochstehenden Manne einen ehemaligen Verbrecher vermuten könnte. Er hält es also für völlig ungefährlich, zurückzukehren. Er nimmt ständigen Aufenthalt in England, mit der Absicht, die Sommermonate in Frankreich zu verbringen. Doch der böse Zufall oder jene rätselhafte Gerechtigkeit, die bestimmend in der Menschen Schicksal eingreift und die nicht zuläßt, daß sie sich den Folgen ihrer Handlungen entziehen, führt ihn nach Merlinville. Gerade dort, an diesem einzigen Punkt des großen, weiten Frankreichs lebt der einzige Mensch, der ihn erkennen kann.
Dies ist natürlich eine Goldquelle für Madame Daubreuil, und sie verschmäht nicht, aus dieser Goldquelle Vorteil zu schöpfen. Er ist ihr hilflos in die Hand gegeben. Sie nützt die Situation nach Kräften aus. Und dann erfolgt das Unabwendbare. Jack Renauld verliebt sich in das schöne Mädchen, das er fast täglich sieht, und will es heiraten. Dies regt seinen Vater auf. Um jeden Preis will er die Verbindung seines Sohnes mit der Tochter jenes schlechten Weibes verhüten. Jack Renauld kennt die Vergangenheit seines Vaters nicht, doch Madame Renauld weiß alles. Sie ist eine Frau von besonderer Charakterstärke und ihrem Gatten leidenschaftlich zugetan. Sie beraten miteinander. Renauld sieht nur einen Ausweg - den Tod. Er muß scheinbar sterben, in Wirklichkeit aber in ein fernes Land flüchten, wo er nochmals unter anderem Namen von neuem beginnen will, wohin Madame Renauld ihm folgen soll, nachdem sie eine Zeitlang die Witwenrolle gespielt hat. Es ist sehr wesentlich, daß sie über das Geld zu verfügen hat, daher ändert er sein Testament. Wie sie sich ursprünglich mit dem Leichnam aus der Affäre ziehen wollten, weiß ich nicht - vielleicht mit Hilfe eines medizinischen Skelettes und eines Feuers - oder sonst irgendwie, aber lange, ehe ihre Pläne gereift waren, ereignete sich ein Zwischenfall, der ihnen in die Hände arbeitet. Zufällig gerät ein Landstreicher, ein gewalttätiger Raufbold, in den Garten. Es kommt zu einem Kampf, Renauld bemüht sich, ihn zu verjagen, und plötzlich sinkt der Landstreicher zu Boden, von epileptischem Krampf befallen. Und stirbt. Renauld ruft seine Frau herbei. Gemeinsam schleppen sie den Toten in den Schuppen - wie wir wissen, hatte sich der Vorfall im Freien abgespielt - und sie merken, welch wunderbar günstige Gelegenheit sich ihnen bietet. Der Mann sieht Renauld durchaus nicht ähnlich, aber er ist in mittleren Jahren, ein alltäglicher französischer Typ. Das genügt.
Ich stelle mir etwa vor, daß sie auf jener Bank dort saßen, außerhalb der Hörweite des Hauses, und die Angelegenheit besprachen. Ihr Plan war bald gefaßt. Die Identifizierung mußte sich allein auf Madame Renaulds Zeugnis stützen. Jack Renauld und der Chauffeur, der seit zwei Jahren in Renaulds Diensten stand, mußten entfernt werden. Es war unwahrscheinlich, daß die weibliche Dienerschaft in die Nähe der Leiche ging, und für jeden Fall beabsichtigte Renauld, Maßnahmen zu treffen, um jene hinters Licht zu führen, die keinen guten Blick für Einzelheiten haben. Masters wurde weggeschickt, ein Telegramm an Jack abgesandt, Buenos Aires gewählt, um der Geschichte, für die Renauld sich entschlossen hatte, Glaubwürdigkeit zu verleihen. Da er von mir als einem ziemlich bekannten Detektiv gehört hatte, richtete er diesen Hilferuf an mich; er war sich wohl bewußt, daß bei meiner Ankunft die Vorweisung des Briefes einen tiefen Eindruck auf den Untersuchungsrichter machen würde -was auch zutraf.
Sie kleideten den toten Landstreicher in einen Anzug Renaulds und ließen seine zerlumpten Kleidungsstücke bei der Tür des Schuppens zurück, da sie es nicht wagten, sie mit sich ins Haus zu nehmen. Und dann, um der Erzählung, die Madame Renauld vorzubringen hatte, Glaubwürdigkeit zu verleihen, stießen sie ihm noch den Dolch ins Herz. In der folgenden Nacht wollte Renauld erst seine Frau fesseln und knebeln und dann mit einem Spaten ein Grab in jenem besonderen Teil des Grundes graben, wo, wie er wußte, ein -wie nennt ihr es doch? - Bunker gemacht werden sollte. Es war von großer Wichtigkeit, daß die Leiche gefunden würde -Madame Daubreuil durfte keinen Verdacht schöpfen. Andererseits verringerte sich die Gefahr bei der Identifizierung, wenn unterdessen einige Zeit verstrichen war. Dann wollte Renauld die Lumpen des Landstreichers anlegen, zum Bahnhof eilen und mit dem Zug um 12.10 Uhr unbemerkt entkommen. Da angenommen werden sollte, daß das Verbrechen zwei Stunden später stattfand, konnte keinerlei Verdacht auf ihn fallen.