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Coche taxierte schnell die Situation: Der Arrestant wich zurück zum Stuhl, Mrs. Truffo lag in Ohnmacht, andere Opfer waren nicht zu sehen, der Big Ben hatte unterhalb des Zifferblatts ein Loch, und die Zeiger standen still, dennoch läutete er. Die Damen kreischten. Aber die Situation war unter Kontrolle.

Als der Japaner wieder auf seinem Stuhl saß, sicherheitshalber mit Handschellen gefesselt, als die Arztfrau ins Leben zurückgeholt war und alle Platz genommen hatten, lächelte der Kommissar und sagte, mit seiner Kaltblütigkeit kokettierend: »Soeben, meine Herren Geschworenen, haben Sie einem aufrichtigen Geständnis beigewohnt, das freilich in nicht ganz gewöhnlicher Form gemacht wurde.«

Er hatte sich mit den »Geschworenen« wieder versprochen, doch er korrigierte sich nicht, es war eben eine Probe.

»Es war der letzte Beweis, und einen direkteren kann es nicht geben«, schloß Coche zufrieden. »Und Ihnen, Jackson, muß ich einen Tadel aussprechen. Ich hatte Sie gewarnt, daß der Mann gefährlich ist.«

Der Inspektor war krebsrot. Das hatte er verdient.

Aber alles lief vorzüglich. Der Japaner saß vor drei Pistolenmündungen, die gefesselten Hände an die Brust gedrückt. Seine Augen waren wieder geschlossen.

»Das wär’s, Inspektor. Sie können ihn mitnehmen. Soll er einstweilen bei Ihnen im Kittchen sitzen. Später, wenn die Formalitäten erledigt sind, nehme ich ihn mit nach Frankreich. Meine Damen und Herren, leben Sie wohl. Der alte Coche geht an Land. Ihnen noch eine glückliche Reise.«

»Ich fürchte, Kommissar, Sie werden mit uns w-weiter- fahren müssen«, sagte der Russe in ganz alltäglichem Ton.

Coche glaubte, sich verhört zu haben.

»Hä?«

»Herr Aono ist gänzlich unschuldig, so daß die U-unter- suchung weitergehen muß.«

Coche machte ein überaus dummes Gesicht: die Augen quollen hervor, die Wangen liefen rot an.

Der Russe, ohne die Explosion abzuwarten, sagte mit wahrhaft unnachahmlicher Selbstsicherheit: »Herr Kapitän, auf dem Sch-schiff haben Sie die oberste Gewalt. Der Kommissar hat uns soeben die Imitation einer gerichtlichen Untersuchung vorgespielt, wobei er die Rolle des Staatsanwalts übernahm und sie sehr überzeugend vortrug. Aber vor einem zivilisierten Gericht erhält nach dem Ankläger der V-vertei- diger das Wort. Wenn Sie gestatten, möchte ich diese Mission übernehmen.«

»Wozu Zeit verlieren?« fragte der Kapitän verwundert. »Ich finde, es ist auch so alles klar. Der Herr Polizist hat alles sehr gut erklärt.«

»Einen Passagier an Land zu setzen ist eine höchst e-ernste Angelegenheit. Letzten Endes fällt die ganze Verantwortung auf den Kapitän. Überlegen Sie, welchen Schaden Sie dem Ruf der Schiffahrt z-zufügen, wenn sich herausstellt, daß es ein Irrtum war. Und ich versichere Ihnen«, Fandorin hob etwas die Stimme, »daß der Kommissar sich irrt.«

»Quatsch!« rief Coche. »Aber ich habe nichts dagegen. Das kann sogar interessant werden. Sprechen Sie, Monsieur, ich höre mit Vergnügen zu.«

Wirklich, es war eine Probe. Dieser Junge war nicht dumm, vielleicht hatte er in der Logik der Anklage irgendwelche Löcher entdeckt, die geflickt werden mußten. Wenn während des Prozesses der Staatsanwalt in Bedrängnis geriet, konnte Coche ihm zu Hilfe kommen.

Fandorin schlug ein Bein übers andere und verschränkte die Finger vor dem Knie.

»Sie haben eine beeindruckende und beweiskräftige R-rede gehalten. Auf den ersten Blick erscheint Ihre Argumentation unumstößlich. Ihre logische Kette wirkt fast makellos, obwohl die sogenannten indirekten Umstände natürlich nichts w-wert sind. Ja, Herr Aono war am 15. März in Paris. Ja, Herr Aono war zu dem Zeitpunkt, als der P-professor ermordet wurde, nicht im Salon. Für sich betrachtet, bedeuten diese beiden Fakten rein gar nichts, darum können wir sie außer acht lassen.«

»Einverstanden«, sagte Coche spöttisch. »Kommen wir gleich zu den Indizien.«

»Bitte sehr. An mehr oder weniger gewichtigen Indizien habe ich fünf gezählt. Monsieur Aono ist Arzt, hat diesen Umstand aber aus irgendwelchen Gründen geheimgehalten. Erstens. Monsieur Aono kann mit einem Schlag einen sehr harten Gegenstand spalten, einen Kürbis, vielleicht auch einen Kopf. Zweitens. Monsieur Aono hat kein >Leviathan<- Abzeichen. Drittens. In der Arzttasche des Beschuldigten fehlt das Skalpell, mit dem möglicherweise Professor Sweetchild ermordet wurde. Viertens. Und schließlich fünftens: Eben hat der Beschuldigte vor unseren Augen einen Fluchtversuch unternommen, womit er sich endgültig entlarvte. Habe ich etwas vergessen?«

»Ja, sechstens«, warf der Kommissar ein. »Er kann keinen dieser Punkte erklären.«

»Gut, also sechs«, stimmte der Russe leichthin zu.

Coche lachte auf.

»Mehr als genug, damit jedes Schwurgericht den Braven auf die Guillotine schickt.«

Inspektor Jackson schüttelte plötzlich den Kopf und knurrte: »To the gallows.«

»Nein, an den Galgen«, übersetzte Regnier.

Ach, der Engländer, diese schwarze Seele, dachte Coche. Ich habe eine Schlange am Busen genährt.

»Aber erlauben Sie mal«, fuhr er hoch. »Die Ermittlung ist von französischer Seite durchgeführt worden. Also kommt der Bursche auf die Guillotine!«

»Aber das entscheidende Indiz, das Fehlen des Skalpells, hat die britische Seite entdeckt. Er kommt an den Galgen«, übersetzte der Leutnant.

»Das Hauptverbrechen wurde in Paris verübt! Guillotine!«

»Aber Lord Littleby war britischer Untertan. Professor Sweetchild auch. Galgen.«

Der Japaner schien diese Diskussion nicht zu hören, die in einen internationalen Konflikt auszuarten drohte. Seine Augen waren noch immer geschlossen, das Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Diese Gelben sind eben doch anders als wir, dachte Coche. Wozu der ganze Aufwand: Staatsanwalt,

Advokat, Geschworene, Richter im Talar. Na schön, alles richtig, Demokratie ist Demokratie, aber im Volksmund heißt das »Perlen vor die Säue werfen«.

Nach einer Pause sagte Fandorin: »Sind die Streitereien beendet? Kann ich f-fortfahren?«

»Los«, sagte Coche finster, im Kopf die bevorstehenden Schlachten mit den Briten.

»Wir wollen auch die gespaltenen Kürbisse nicht d-diskutieren. Sie beweisen gar nichts.«

Die ganze Komödie hing dem Kommissar allmählich zum Halse heraus.

»Gut. Keine Kleinkrämerei.«

»A-ausgezeichnet. Bleiben nur fünf Punkte: verheimlicht, daß er Arzt ist; das fehlende Abzeichen; das fehlende Skalpell; der Fluchtversuch; er gibt keine Erklärungen.«

»Aber jeder Punkt reicht aus, ihn aufs . Schafott zu schicken.«

»Die Sache ist die, Kommissar, daß Sie europäisch denken. Herr Aono hat eine andere L-logik, eine japanische, und Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, in sie einzud-dringen. Ich hingegen hatte mehr als einmal die Ehre, mich mit dem Mann zu unterhalten, und ich habe von seiner seelischen Struktur eine bessere Vorstellung als Sie. Monsieur Aono ist nicht einfach Japaner, er ist ein Samurai, noch dazu aus einem a-alten und einflußreichen Geschlecht. Das ist in diesem Falle wichtig. Über fünf Jahrhunderte waren die Männer des Geschlechts Aono nur Krieger, alle anderen Berufe galten als unwürdig für die Mitglieder einer so vornehmen S-sippe. Der Beschuldigte ist der dritte Sohn in der Familie. Als Japan sich dafür entschied, Europa einen Schritt entgegenzukommen, schickten viele angesehene Familien ihre Söhne zum Studium ins Ausland. Das tat auch der Vater von Herrn Aono.