Den ältesten Sohn ließ er in England zum Marineoffizier ausbilden. Das Fürstentum Satsuma, in dem das Geschlecht der Aonos lebt, liefert nämlich die Kader für Japans Kriegsmarine, und der Dienst auf See hat in Satsuma das größte Prestige. Den zweiten Sohn schickte Aono senior nach Deutschland, an die Militärakademie. Nach dem DeutschFranzösischen Krieg 1870 beschlossen die Japaner, das deutsche Armeemodell zu übernehmen; ihre Militärberater sind durchweg Deutsche. Diese Angaben über die Familie Aono habe ich von dem Beschuldigten persönlich.«
»Und was zum Teufel nützen uns die aristokratischen Details?« fragte Coche gereizt.
»Mir ist aufgefallen, daß der Beschuldigte von seinen Vorfahren und seinen älteren B-brüdern mit Stolz redet und über sich selbst am liebsten schweigt. Ich habe längst bemerkt, daß er für einen Saint-Cyr-Absolventen in militärischen Dingen erstaunlich unwissend ist. Und warum hätte man ihn an die französische Militärakademie schicken sollen, wenn die japanische Armee, wie er selber sagt, nach deutschem Muster organisiert wird? Meine Mutmaßung läuft auf folgendes hinaus: Aono senior hatte, den Zeichen der Zeit nachgebend, beschlossen, seinen dritten Sohn einen friedlichen Beruf erlernen zu lassen, den des Arztes. Wie ich aus Büchern weiß, ist es in Japan nicht ü-üblich, einen Beschluß des Familienoberhauptes anzufechten, und der Beschuldigte bezog gehorsam die medizinische Fakultät. Aber dabei fühlte er sich höchst unglücklich und sogar entwürdigt. Er, der Sproß des kriegerischen Geschlechts der Aonos, sollte mit Binden und K-klistierspritzen umgehen! Das ist der Grund, warum er sich als Militär ausgab. Er schämte sich einfach, seinen unkriegerischen Beruf publik zu machen. Vom europäischen Standpunkt mag das absurd sein, aber versuchen Sie, es mit seinen Augen zu s-sehen. Wie hätte sich Ihr Landsmann d’Artagnan gefühlt, wenn man ihn gezwungen hätte, nicht Musketier, sondern Arzt zu werden?«
Coche sah, wie mit dem Japaner eine Veränderung geschah. Er hatte die Augen geöffnet und sah Fandorin mit deutlicher Erregung an; auf seine Wangen traten rote Flecke. Errötete er etwa? Unsinn!
»Ach, was für Feinheiten«, fauchte der Kommissar. »Aber lassen wir das dahingestellt sein. Erzählen Sie mir lieber, Herr Verteidiger, wo Ihr schüchterner Klient das goldene Abzeichen gelassen hat. Hat er sich geschämt, es zu tragen?«
»Genauso ist es.« Der selbsternannte Advokat nickte unerschütterlich. »Ja, er hat sich geschämt. Was steht denn auf dem Abzeichen geschrieben?«
Coche linste hinunter auf sein Revers.
»Gar nichts steht da geschrieben. Nur die drei Anfangsbuchstaben der Schiffahrtsgesellschaft >Jasper-Arthaud Part- nership<.«
»Eben.« Fandorin zeichnete die drei Großbuchstaben in die Luft. »J-A-P. Also >Jap<. Das klingt wie >Japs<, der verächtliche Spitzname, mit dem die Ausländer die Japaner bezeichnen. Würden Sie, Kommissar, auf der Brust ein Abzeichen tragen, auf dem >Froschfresser< geschrieben steht?«
Kapitän Cliff warf den Kopf zurück und lachte schallend. Sogar der sauertöpfische Jackson und die affektierte Miss Stomp lächelten. Die roten Flecke im Gesicht des Japaners wurden größer.
Coches Herz verkrampfte sich in einer unguten Vorahnung. Seine Stimme klang heiser: »Hätte er das nicht selbst erklären können?«
»Ausgeschlossen. Schauen Sie, soweit ich es aus den Büchern weiß, liegt der wesentliche Unterschied zwischen
Europäern und Japanern in der sittlichen Grundlage des sozialen Verhaltens.«
»Sehr geklügelt«, bemerkte der Kapitän.
Der Diplomat wandte sich ihm zu.
»Keineswegs. Die christliche Kultur beruht auf dem Schuldgefühl. Sündigen ist schlecht, weil man sich hinterher mit Reue plagt. Um Schuldgefühle zu vermeiden, bemüht sich ein normaler Europäer um ein sittliches Verhalten. Genauso trachten die Japaner, nicht gegen ethische Normen zu verstoßen, aber aus einem anderen Grund. In ihrer Gesellschaft spielt die Scham die Rolle des moralischen Wächters. Am schlimmsten ist es für einen Japaner, in eine schmähliche L-lage zu kommen, von der Gesellschaft verurteilt oder, noch übler, verlacht zu werden. Darum haben die Japaner große Angst, etwas Ungehöriges zu tun. Ich versichere Ihnen: Als gesellschaftlicher Zivilisationsfaktor ist die Scham wirksamer als das Gewissen. Vom Standpunkt des Herrn Aono war es gänzlich undenkbar, von etwas >Beschämen- dem< laut zu sprechen, noch dazu Fremden gegenüber. Arzt zu sein statt Militär ist beschämend. Eine Lüge einzugestehen ist noch beschämender. Und einzuräumen, daß er, ein japanischer Samurai, einem beleidigenden Spitznamen irgendeine Bedeutung beimessen könnte, ist ausgeschlossen.«
»Danke für die Lektion.« Coche machte eine ironische Verbeugung. »Und der Fluchtversuch Ihres Klienten, geschah der auch aus Scham?«
»That’s the point«, sagte Jackson beifällig, er wurde wieder vom Feind zum Freund. »The yellow bastard almost
broke my wrist.«[9]
»Sie haben es wieder erraten, K-kommissar. Vom Schiff zu fliehen ist unmöglich, wohin auch? Mein Klient (wenn Sie ihn schon so nennen wollen) hielt seine Lage für aussichtslos und sah nur weitere Erniedrigungen voraus, darum wollte er sich sicherlich in seiner Kabine einschließen und seinem Leben nach Samuraibrauch ein Ende setzen. Ist es nicht so, Monsieur Aono?« Zum erstenmal sprach Fandorin den Japaner direkt an.
Der gab keine Antwort, senkte aber den Kopf.
»Sie würden eine Enttäuschung erlebt haben«, sagte ihm der Diplomat sanft. »Wahrscheinlich haben Sie es überhört: Ihr ritueller D-dolch ist von der Polizei bei der Durchsuchung beschlagnahmt worden.«
»Ah, Sie sprechen von diesem, wie heißt es gleich, Hira- kira, Harikari.« Coche griente in seinen Schnauzbart. »Blödsinn, ich glaube nicht, daß ein Mensch sich selbst den Bauch aufschlitzt. Ammenmärchen. Wenn man schon ins Jenseits will, dann lieber mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Aber darüber will ich mich nicht mit Ihnen streiten. Ich habe ein Indiz, gegen das nicht anzukommen ist - das fehlende Skalpell. Was sagen Sie dazu? Daß der eigentliche Verbrecher es beizeiten Ihrem Klienten gestohlen hat, um den Mord vorzubereiten und die Verantwortung auf Aono abzuwälzen? Das geht nicht auf! Woher sollte der Mörder wissen, daß der Professor uns seine Entdeckung beim Mittagessen mitteilen wollte? Sweetchild war ja selber gerade erst dahintergekommen, wie sich das mit dem Tuch verhielt. Erinnern Sie sich, wie zerrauft er in den Salon gelaufen kam?«
»Nun, für das Fehlen des Skalpells kann ich Ihnen eine höchst einfache Erklärung g-geben. Und nicht als Vermutung, sondern als F-faktum. Erinnern Sie sich, wie nach Port Said plötzlich auf rätselhafte Weise Gegenstände aus den Kabinen verschwanden? Die geheimnisvolle Epidemie hörte so plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatte. Und wissen Sie wann? Nach dem Tod unseres dunkelhäutigen blinden P-passagiers. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie und warum er auf die >Leviathan< geriet. Hier meine Theorie. Der Neger ist höchstwahrscheinlich von arabischen Sklavenhändlern aus Afrika verschleppt und auf dem Wasserweg nach Port Said gebracht worden. Warum ich das annehme? Weil er, nachdem er seinen Besitzern entflohen war, nicht irgendwohin lief, sondern auf ein Schiff. Er mag geglaubt haben, wenn ihn ein Schiff von zu Hause weggeschafft habe, könne ihn ein Schiff auch wieder zurückbringen.«
»Was hat das mit unserer Angelegenheit zu tun?« fragte Coche aufgebracht. »Ihr Neger starb am 5. April, und Sweetchild ist gestern ermordet worden! Und überhaupt, gehen Sie doch zum Teufel mitsamt Ihren Märchen! Jackson, führen Sie den Verhafteten ab!«
Er wandte sich entschlossen dem Ausgang zu, aber der Diplomat umklammerte auf einmal den Ellbogen des Kommissars und sagte mit widerwärtiger Höflichkeit: »Lieber Monsieur Coche, ich möchte meine Argumentation zu Ende b-bringen. Gedulden Sie sich noch ein wenig, es dauert nicht mehr lange.«