»Jordan.« Sam schürzte die Lippen. »Nein. Der Mann hat keine Fantasie. Er macht alles genau nach Vorschrift.«
»Sie mögen ihn nicht?«
»Ach, er ist einer von den Menschen, die nicht selbstständig denken können. Er braucht ein Vorbild, eine Vorschrift, aber er ist ehrlich. Wir stehen persönlich nicht auf bestem Fuß, aber Jordan ist kein Verbrecher.«
»Er hat in zwei Jahren drei gebührenpflichtige Verwarnungen wegen überhöhter Geschwindigkeit bekommen. Er mußte von Staats wegen einen Fahrkursus absolvieren.«
»Deswegen ist er noch lange kein Verbrecher.« Sam war mit seiner Geduld am Ende.
»Wußten Sie von den Verwarnungen?«
»Nein. Sheriff, wieso sollte ich das wissen? Sie klammern sich an Strohhalme. Sie vermuten, mein Krankenhaus, und ich betrachte es alsmein Krankenhaus, ist eine Brutstätte des Verbrechens. Sie bringen zwei abscheuliche Morde in Zusammenhang, die vielleicht nichts miteinander zu tun haben. Und daß Larry Johnson Ihr Spion war, beweist noch lange nicht, daß seine Ermordung mit dem Krankenhaus zusammenhängt. Vielleicht hatte er ein Geheimleben.« Sams Augen funkelten vor Zorn.
»Ich verstehe.« Rick starrte einen Moment auf seine Schuhe, dann sah er Sam an. »Wie steht es im Krankenhaus mit der Tötung von Menschen aus Unachtsamkeit?«
»Das verbitte ich mir!«
»So was passiert.« Rick hob die Stimme. »Das passiert tagtäglich in ganz Amerika. Es muß auch in Ihrem Krankenhaus passiert sein.«
»Ohne Rechtsanwalt sage ich nichts mehr.« Sam straffte das Kinn.
»Na schön, Sam. Und engagieren Sie am besten gleich noch eine Werbeagentur; denn ich werde nicht eher ruhen, als bis ich alles herausgefunden habe, Sam, alles. Und das heißt, wer in Ihrem Krankenhaus getötet wurde, bloß weil irgendein Schwachkopf die Kurve abzulesen vergessen, die falschen Medikamente verabreicht oder der Anästhesist die Sache vermasselt hat. Auch im Crozet Hospital wird Mist gebaut!« Rick stand auf, sein Gesicht lief dunkelrot an. Coop stand auch auf. »Und ich krieg Sie dran wegen Behinderung eines Polizeibeamten an der Pflichtausübung!«
Rick stürmte hinaus und der wütende Sam blieb mit weit geöffnetem Mund im Lesezimmer sitzen.
Coop rutschte vorsichtshalber hinters Steuer des Streifenwagens, bevor Rick es tun konnte. Sie hatte kein Bedürfnis, mit einem Kaltstart aus der Zufahrt der Mahanes zu schlittern und dann mit hundertdreißig Sachen die Straße entlang zu brettern. Rick fuhr ohnehin schon schnell; war er wütend, flog er förmlich.
Er schlug die Beifahrertür zu.
»Wohin?«
»Jordan Ivanic, verdammt noch mal. Vielleicht wird der gerissene Mistkerl uns was erzählen.«
Sie fuhr Richtung Krankenhaus, sagte nichts, weil sie den Chef kannte. Der Jammer über Larrys Tod hatte ihn überwältigt, und dies war seine Art, es zu zeigen. Zudem hatte er allen Grund fuchsteufelswild zu sein. Jemand brachte Menschen um und ließ ihn wie einen Trottel aussehen.
»Chef, der Fall ist eine harte Nuß. Seien Sie nicht so streng mit sich.«
»Klappe halten.«
»Klar.«
»Ich krieg Sam Mahanes. Ich werde ihn auf den elektrischen Stuhl bringen, werde ihn vierteilen. Patienten mußten wegen Dummheit sterben. So was passiert.«
»Ja, aber es ist Sams Job, den Ruf des Krankenhauses zu schützen. Ein, zwei Fehler zu vertuschen ist eine Sache, aber eine Flut von Fehlern zu vertuschen, das ist was anderes - und Larry würde es gemerkt haben, Chef. Ärzte mögen Geheimnisse vor Patienten und deren Angehörigen bewahren können, aber nicht vor den Kollegen. Nicht lange jedenfalls.« »Larry würde es gemerkt haben.« Rick zündete sich eine Zigarette an. »Coop, ich stecke fest. Wohin ich mich wende, ist eine Mauer.« Er schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett. »Ich weiß, daß es mit dem Krankenhaus zu tun hat. Ich weiß es!«
»Jede Ihrer Ideen könnte jemanden zu einem Mord provozieren.«
»Wissen Sie, was mich wirklich quält?« Er wandte ihr das Gesicht zu. »Wenn es nun was ganz anderes ist? Etwas, was wir uns nicht vorstellen können?«
Kaum waren Rick Shaw und Cynthia Cooper aus der Zufahrt gebogen, als Sam Mahanes schnurstracks in seine Werkstatt ging und mit seinem Handy Tussie Logan anrief.
»Hallo.«
»Tussie.«
»Oh, hallo.« Ihre Stimme wurde sanft.
»Gut, daß Sie da sind. Haben Sie die schreckliche Nachricht über Larry Johnson schon gehört?«
»Nein.«
»Er wurde in Twisted Creek Stables erschossen aufgefunden.«
»Larry Johnson.« Sie konnte es nicht glauben.
»Hören Sie, Tussie, Sheriff Shaw und diese Bohnenstange von Polizistin werden das ganze Krankenhaus durchsuchen. Wir müssen es für eine Weile ruhen lassen.«
Es folgte eine lange Pause. »Verstehe.«
28
Die Straßen, Gassen und Seitenstraßen, die zur lutheranischen Kirche führten, waren voll geparkt. Zu dem Trauergottesdienst, der für elf Uhr vormittags angesetzt war, erschienen ganz Crozet, viele Leute aus Albemarle County sowie Freunde und Angehörige, die aus Orten angereist waren, deren Existenz von den Virginiern oft vergessen wurde, Orten wie Oklahoma zum Beispiel.
Um viertel vor elf waren einige Leute verzweifelt auf der Suche nach einem Parkplatz. Sheriff Shaw hatte vorausgesehen, daß es so kommen würde. Die zwei Beamten, die den Leichenzug begleiten sollten, wies er an, beim Parken in zweiter Reihe und im Parkverbot ein Auge zuzudrücken. Das Verbot, an einem Hydranten zu parken, setzte er nicht außer Kraft.
Geschäfte stellten ihre Parkplätze zur Verfügung. Der Menschenandrang war so groß, daß mehr als zweihundert Personen sich mit den Amtsräumen und Vestibülen der Kirche begnügen mußten, weil die Kirche selbst überfüllt war. Um elf Uhr standen noch immer mehr als fünfundsiebzig Personen draußen, und es war ein klarer, schneidend kalter Tag.
Reverend Herbert C. Jones hatte in weiser Voraussicht sowohl draußen als auch in den Vestibülen Lautsprecher aufgehängt. Tags zuvor war Aschermittwoch gewesen, weswegen er seine Fastenzeitgewänder trug.
Herb hatte Larry sein Leben lang gekannt. Er dachte über seinen Nachruf nach, dachte darüber nach, daß das Leben eines guten Menschen so gewaltsam ausgelöscht worden war. Als Mann Gottes fügte er sich Gottes Willen, aber als Freund, als tief empfindender Mensch konnte er nicht umhin zu zweifeln.
Die Führungskräfte des Crozet Hospital füllten die linke vordere Seite der Kirche. Hinter Sam Mahanes, Jordan Ivanic, Dr. Bruce Buxton und anderen kamen die Pflegekräfte, die über Jahre mit Larry gearbeitet hatten, Tussie Logan, weitere Krankenschwestern, Sekretärinnen, Menschen, die ihn lieben gelernt hatten, weil er sie schätzte. Larry war nicht die Spur hochmütig gewesen.
Vorne auf der rechten Seite der Kirche saßen Verwandte, Neffen und Nichten mit ihren Kindern. Larrys Bruder, ein Rechtsanwalt, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Norman, Oklahoma, gezogen war, war auch da. Die Johnsons, allesamt gut aussehend, hatten viele von Larrys guten Eigenschaften: rechtschaffen, zuvorkommend, fleißig. Besonders ein Großneffe sah fast genauso aus wie Larry mit fünfundzwanzig.
Als Mim Sanburne diesen jungen Mann erblickte, brach sie in Tränen aus. Jim und Little Mim legten beide einen Arm um sie, doch diese Fleisch gewordene Erinnerung, diese genetische Wiederholung zerriß ihr das Herz. Larry war unwiederbringlich gegangen und mit ihm Mims Jugend und Leidenschaft.
Harry, Susan und Miranda saßen nebeneinander ziemlich weit vorne auf der rechten Seite der Kirche. Alle drei trugen sie Hüte, wie es sich gehörte. In Harrys Fall sollte der Hut außerdem die Stiche verdecken.
Der geschlossene Sarg aus Walnußholz stand im Hauptschiff unterhalb des Altars. Der Duft der zahllosen Blumengebinde überwog den der Blumen im Vordergrund. Für die Menschen im Hintergrund bargen die süßen Gerüche Hoffnungen auf den nicht mehr allzu fernen Frühling, eine herrliche Jahreszeit im Blue-Ridge-Gebirge.