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«Als was hast du ihn gesehen?», fragte ich.

«Ich dachte, er würde ein Dichter werden, später einmal ...»

Sokrates sprach nicht weiter. Er legte die Hand über die Augen. Ich weiß nicht, ob als Schutz vor der Sonne oder weil er weinte. Sein Blick ging wieder zum Parthenon.

«Was ist, sollen wir hineingehen?», fragte er, nachdem er das Bild des Tempels in sich aufgesogen zu haben schien. «Ich war schon lange nicht mehr hier oben. Ich wollte meiner lieben Freundin in ihrem Haus gerne wieder einmal einen Besuch abstatten.»

«Wenn du möchtest», antwortete ich.

Wir gingen gemeinsam um den Tempel herum. Der Haupteingang liegt zur aufgehenden Sonne hin. Vier junge Priester mit strengen Gesichtern standen auf den Stufen, die zum Inneren des Heiligtums führten. Wir grüßten; sie ließen uns nur misstrauischen Blickes vorbei. Im Inneren war es still und kühl. Unsere Schritte verhallten zwischen den Säulenreihen. Wir waren nicht allein, aber niemand sprach. Keiner wagte es, Athenes Ruhe und Andacht zu stören. Still durchmaßen wir den Vorraum, dann betraten wir die Cella, die den größten Reichtum der Stadt hütet. Und hier stand sie vor uns: die leibhaftige Göttin in ihrer elfenbeinernen Gestalt, zart und gewaltig zugleich. Sie nahm den ganzen Raum bis hin zur Decke ein. Ihr jungfräulicher Körper war mit Edelsteinen gespickt und in einen aus Gold gesponnenen Mantel gehüllt, so schwer, dass er einen Teil des Athener Kriegsschatzes bildete. Auf ihrem Haupte thronte der dreifach geschmückte Helm, in ihrer rechten Hand der geflügelte Siegesgott, und neben ihr im Schutz des Schildes wartete die Schlange, bereit, sich sofort auf uns zu stürzen und uns zu verschlingen. Athenes Augen dagegen sahen mild zu uns herab, und zart war ihr Gesicht, das bald dem Knaben, bald dem Weibe glich.

Sokrates trat vor die Göttin, und mit einer Anmut, die ich seinem älteren und ein wenig plumpen Körper niemals zugetraut hätte, verneigte er sich vor ihr.

Als Sokrates später zum Tode verurteilt wurde, habe ich oft daran denken müssen, wie wir zusammen zur Akropolis gegangen sind und Sokrates mir unter den Augen der Göttin den Vorzug der Demokratie damit erklärt hatte, dass die Volksherrschaft jemanden wie ihn ertrug. Nur zehn Jahre später würde sie ihn nicht mehr ertragen und ihm wegen Gottlosigkeit den Schierlingsbecher reichen. Ich weiß, er leerte ihn, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Aus Respekt vor dem Gesetz eben dieser Demokratie, wie man sagte, und aus Ehrfurcht vor dieser Göttin, deren größter Schüler er war - wie ich weiß.

«Wann hat er dir denn das Buch gegeben?», fragte ich Sokrates, nachdem wir den Parthenon wieder verlassen hatten. Ich hoffte, zwischen der Wesensänderung Perianders und dem Besitz des Buches könne vielleicht ein Zusammenhang bestehen. Aber Sokrates konnte dergleichen nicht ausmachen. Nach seiner Erinnerung lag sicher ein ganzes Jahr zwischen diesen beiden Ereignissen.

Schließlich sprachen wir über Perianders Freunde. Charmides, einen Vetter des Kritias, hatte Sokrates bereits erwähnt. Er war ein paar Jahre älter als Periander, ein geschickter Wagenlenker und oft mit Periander im Stadion. Mit Kritias selbst hatte Periander dagegen nicht viel zu tun. Als ich nach einem gewissen Aristokles und seinem Bruder Glaukon fragte, deren Namen mir von Perianders Vater genannt worden waren, lächelte Sokrates zum ersten Mal wieder. Glaukon und Periander waren miteinander bekannt, aber nicht befreundet gewesen, erklärte er mir, dafür sei Aristokles vermutlich der engste Freund Perianders. Mit den gleichen Interessen begabt und im gleichen Alter wie Periander, standen die beiden sich von all seinen Schülern wohl am nächsten. Periander habe auch einen Spitznamen für Aristokles erfunden, der so treffend sei, dass ihn keiner mehr bei seinem eigentlichen Namen nenne, ja ihn kaum noch einer unter seinem wirklichen Namen kenne.

«Ah, ja?», fragte ich, «wie lautet denn dieser Spitzname?»

Worauf Sokrates antwortete: «Platon.»

Z

gegen mittag war ich wieder in der Kaserne. Sokrates und ich hatten uns am Fuße der Akropolis getrennt; er war zu seinem anspruchsvollen Weib, ich zu meinen täglichen Pflichten zurückgekehrt.

Ich hatte kaum Zeit, einmal Luft zu holen, schon gab es neue Aufregung. Wie Myson berichtete, war heute Morgen doch tatsächlich ein persisches Handelsschiff in Piräus eingelaufen. Das war unerhört, denn seit unserem Sieg über Persien war die Ägäis für die persische Handelsflotte gesperrt. Die Passierbriefe des Schiffes schienen aber gültig zu sein. Der Kapitän habe eine Sondererlaubnis von Alkibiades selbst vorweisen können und die Hafensteuern anstandslos abgeführt. Gegen die Landung des Schiffes war danach nichts vorzubringen. Einige Passagiere konnten sogar eine Einladung des Bankiers Pasion vorlegen, worauf ein Unteroffizier der Toxotai ihnen zögernd gestattet hatte, einen Boten nach dem Hause des Bankiers zu schicken, um auszurichten, seine Gäste erwarteten ihn am Hafen. Nur das Verlassen des Schiffes konnte den Persern von meinen Männern verwehrt werden.

Ich beschloss, mir den persischen Rah-Segler aus der Nähe anzusehen, und bat Myson, mein Pferd zu satteln und mir einen Schlauch mit Wasser und ein wenig Obst mitzugeben. Der Besitz von Pferden gehört zu den großen Vorzügen der Toxotai, und ich genoss dieses Privileg, das ich mir selbst kaum hätte leisten können, sehr, denn ich liebte diese Tiere seit meiner Kindheit. Mein Liebling im Marstall war eine dreijährige Stute mit honigfarbenem Fell. Ich nannte sie Ariadne. Sie war ein Geschenk der Stadt für meine Arbeit während meines ersten Jahres als Hauptmann. Jetzt wartete sie an Mysons Hand im Hof auf mich und schnaubte zur Begrüßung, als sie mich kommen sah.

Von Athen aus gibt es zwei Wege nach Piräus. Der eine verläuft über die Koile-Straße zwischen den Langen Mauern, der andere durch das Piräus-Tor auf offenem Feld. Diesen wählte ich. Er ist nicht unbedingt bequemer, aber der Blick auf das Land ist frei und nicht durch den Schutzwall beengt. Auf der ersten Meile fällt die Straße steil ab und ist hart, ausgetrampelt und steinig. Bald führt sie durch Pinien- und Fichtenwälder, bald über kargen Fels, auf dem die Eidechsen dösen und nur noch die Feigenkakteen sich festhalten können. Als wir dieses Stück hinter uns gebracht hatten, legte ich im Schatten eines Wäldchens eine kleine Pause ein. Ich setzte mich neben ein ausgetrocknetes Bachbett und aß das Obst, das ich mitgenommen hatte. Ariadne stand neben mir und äste. Lichtstrahlen fielen durch die flirrenden Baumkronen und tanzten mit den Schatten. In dem Bachbett vor mir leuchteten weiße Kiesel. Plötzlich hörte ich ein leises Knacken und erblickte ein Kaninchen hinter einer jungen Kiefer, vielleicht zehn Klafter entfernt. Ich richtete mich leise auf und nahm meinen Bogen, den Ariadne an ihrem Sattel trug. Das Kaninchen bewegte sich nicht, nur seine Augen zuckten unruhig. Ich legte auf und spannte die Sehne. Die Pfeilspitze schimmerte im Wechsellicht des Waldes. Ein Geräusch, plötzlich sprang das Tier auf. Surrend schnellte der Pfeil von der Sehne. Von der Wucht des Geschosses erfasst, stürzte das Tier zu Boden. Es war tödlich in die Kehle getroffen.

Das tote Kaninchen über den Rücken meines Pferdes geworfen, machte ich mich wieder auf den Weg. Der Pfad wurde flacher, wir verließen bald das Wäldchen, und der Blick öffnete sich. Ich lockerte die Zügel und drückte der Stute meine Fersen in die Flanken. Sie nahm Tempo auf und galoppierte über die weite Fläche nach dem Meere zu. Schon schienen ihre Hufe den Boden nicht mehr zu berühren, so schnell und gleichmäßig war ihr Schritt. Allmählich stieg mir ein Duft in die Nase, dessen erster Eindruck mich immer wieder überrascht: der Geruch von Salz und Fischen, der Geruch der Gischt, die sich über dem Wasser kräuselt, der Wellen, die gegen die Felsen schlagen - der Duft des Meeres, dem wir Athener alles verdanken. Piräus war nicht mehr weit. Schon sah man die Möwen über den Schiffen kreisen und die großen Kräne über den Frachtschiffen aufgerichtet beim Löschen der Ladung. Bald trabte ich durch das untere Tor und über die Hauptstraße zum Handelshafen Kantharos hin. Er ist der größte unserer drei Häfen, gleichwohl liegt sein Korridor zur See noch im Schutz der Langen Mauer.