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«Anaxos lebt und arbeitet im Strategion», berichtete Thrasybulos weiter, «er verlässt es kaum. Gerüchten zufolge hat er ein gewaltiges Archiv mit Schriftrollen angelegt, in welchem sich Eintragungen über fast jeden Athener finden - auch über mich und dich -, aber ich glaube das nicht. Immerhin eines steht fest: Mit Anaxos muss man immer rechnen, wenn man auch nie weiß, was er tun und was er lassen wird. Nimm dich vor ihm in Acht, Nikomachos.»

«Er ist nicht der Einzige, vor dem ich mich in Acht nehmen muss», antwortete ich unwillkürlich.

Thrasybulos nickte. «Nein, ganz sicher nicht.»

Unser Gast blieb nicht mehr lange. Nachdem er noch ein paar letzte Fragen beantwortet hatte, verließ er uns freundlich und ruhig und ließ mich mit meinem Vater allein.

«Ich hoffe, es geht dir bald wieder besser», verabschiedete er sich und zeigte auf meinen Brustkorb. Offenbar hatte nicht nur mein alter Vater bemerkt, dass ich mir hin und wieder in die Seite gegriffen hatte. Ich lächelte gequält und versicherte Thrasybulos, es sei alles in Ordnung. Er nickte liebenswürdig und ging.

Vater und ich waren kaum allein, als er mich schon aufgeregt fragte, was mir geschehen sei. Ich brachte er nicht fertig, ihn anzulügen und den Überfall zu verschweigen, versuchte die Angelegenheit aber herunterzuspielen, so gut ich konnte, damit er sich keine allzu großen Sorgen machte: «Es waren nur zwei junge Kerle. Sie haben mich draußen erwischt. Ich habe nicht aufgepasst. Es war aber nicht weiter schlimm.»

Vater sah mich angestrengt an und vergaß sogar, sich zu räuspern.

«Meinst du, das war eine Warnung?», fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht. Wenn es eine Warnung war, dann kommt sie früh. Ich habe mit meiner Arbeit noch gar nicht richtig begonnen ... Vielleicht waren es auch einfach nur zwei Strauchdiebe, die mir mein Geld abnehmen wollten. Du weißt, wie gefährlich Athen ist.»

«Ja, nur zu gut», bestätigte er und sah sich schnell um, als ob auch bei uns im Garten plötzlich jemand hinter einem Gebüsch hervorspringen könnte. Dann räusperte er sich, und ich war beruhigt.

An diesem Abend saßen wir noch sehr lange im Garten. Eine schmale Mondsichel stand über der Stadt, und Hunderte und Aberhunderte von Sternen leuchteten wie von einem verschwenderischen Gott verstreutes Gold. Eine Fledermaus kreiste über unseren Köpfen und schnappte sich die Falter, die um das Licht flatterten. Aspasia war in ihren Frauengemächern geblieben. Jetzt schlief sie sicher schon. Kein Laut drang vom Haus in den Garten. Heute würde ich ihr meine Verletzung verheimlichen können. Das beruhigte mich. Die Nacht war friedlich, und ich fühlte mich meinem Vater nah; trotzdem dauerte es lange, bis ich ihm einen Gedanken anvertrauen konnte, der schon lange in mir schlummerte, jetzt aber vor allem durch die Begegnung mit Alkibiades geweckt worden war.

«Manchmal überlege ich mir, ob Periander und Charmides nicht vielleicht doch recht haben», begann ich vorsichtig. «Glaubst du, es ist wirklich richtig, das Volk über die Fragen der Polis entscheiden zu lassen? Die meisten Athener können doch noch nicht einmal lesen oder schreiben. Sie stimmen gerade für das, was ihnen der beste Redner eingegeben hat, wenn sie ihre Stimmen nicht schon vorher von jemandem haben kaufen lassen. Denke nur an Alkibiades: Er hat mit den Spartanern gegen Athen gekämpft und uns hundertfach verraten. Irgendwann kehrt er zurück, verteilt Münzen unter das Volk und wird prompt zum Strategen gewählt ... Ich verstehe das nicht. Meinst du nicht, es wäre besser, die Stadt würde von einer Gruppe unbestechlicher Männern regiert, die klug und verständig sind und sich nicht von jeder Stimmung mitreißen lassen?»

Mein Vater hörte mir zu, räusperte sich und spitzte die Lippen, aber er antwortete nicht gleich. Früher hätte er mich wütend zurechtgewiesen, wenn ich einer Oligarchie das Wort geredet hätte. Seit er älter geworden war, war er nachdenklicher und milder gestimmt. Er strich mit der Hand über seinen kahlen Schädel. Für einen Moment war es ganz still in unserem Garten.

«Weißt du, Nikomachos», antwortete er nach einer ganzen Weile, «das einfache Volk ist nicht so dumm, wie viele meinen, auch wenn es nicht lesen und nicht schreiben kann. Als wir in Athen vor über zwanzig Jahren die ersten Kriegsopfer beerdigen mussten, hat Perikles eine Rede gehalten, eine große Rede. An manche Sätze erinnere ich mich noch so genau, als ob ich sie gestern erst gehört hätte. Nein, das stimmt nicht. Ich erinnere mich viel genauer. Im Alter vergisst man vor allem, was gestern war, und die Jugend ist plötzlich wieder so nah . Er hat damals Folgendes gesagt: ,Wir betrachten einen Menschen, der kein Interesse am Staat hat, nicht als harmlos, sondern als nutzlos- Ja so war das; und weiter - <Zugegeben, nur wenige sind fähig, die Staatsgeschäfte zu führen, aber wir alle sind fähig, sie zu beurteilen.}

Ich denke, das war für ihn entscheidend. Natürlich kann nicht jeder Stratege oder Archon sein, aber jemanden auszusuchen, der das Amt ausfüllt, der ehrlich ist und klug, das vermag das Volk sehr wohl. Wir erkennen ja auch, ob eine Statue gut geformt ist oder nicht, auch wenn wir keine Bildhauer sind ...»

«Und Alkibiades?»

Mein Vater strich sich über den kahlen Kopf. «Ich weiß nicht, ob du ihm nicht Unrecht tust. Alkibiades ist vielleicht kein Musterbeispiel an Tugend, aber er ist ein guter Stratege, und wir stehen nun einmal im Krieg. Wenn du die Wahl hast zwischen einem fähigen General von zweifelhafter Moral und einem unfähigen von bester Gesinnung, wem vertraust du deine Truppen an?»

«Aber Alkibiades hat nicht einfach nur einen schlechten Ruf. Er ist ein Verräter. Er hat mit Sparta gegen Athen gekämpft.»

«Sicher», antwortete mein Vater ruhig, «aber erst, nachdem die Athener ihn zu Tode verurteilt hatten ...»

«Der Hermen-Frevel!», sagte ich bestimmt.

Mein Vater sah mich lange und eindringlich an. «Ja, der Hermen-Frevel. Du weißt ja, wie es war. Alkibiades wurde zu Tode verurteilt, weil die Hermesfiguren in der Nacht vor seiner Abfahrt nach Sizilien zerschlagen wurden. Alle nahmen an, er sei es gewesen, und alle haben das behauptet, nur gesehen hat es keiner ... Aber lass uns nicht streiten. Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes sagen. Vielleicht hast du ja recht und Al-kibiades' Wahl war ein Fehler, aber die Demokratie hat einen großen Vorzug. Sie kann diesen Fehler beseitigen, indem man ihn bei nächster Gelegenheit wieder abwählt. In diesem Punkt ist die Demokratie ziemlich gut und die Oligarchie ziemlich schlecht.»

Mit diesen Worten erhob er sich, küsste mich auf die Stirn und ging zu Bett. Ich blieb noch eine Weile in der Stille der Nacht, saß an unserem Tisch und versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Die zwei Schläger, die mich abgepasst hatten, der Perser, der Junge auf dem Sportplatz ... Es war weit nach Mitternacht, als ich zu Bett ging, wo mich Aspasias nachtwarmer Körper und der Granatapfelduft ihrer Haut empfingen. Ich legte mich zu ihr, schloss die Augen und schlief trotz meiner schmerzenden Rippen sofort ein. Im Traum sah ich Sokrates; er winkte mir zu.

Θ

charmides bewohnte ein rotes Haus am Fuße des Areopag. Es zeigte nach Süden und war in den Hügel hineingegraben, vermutlich, weil man so mehr Platz für den ausladenden Garten im Innenhof gewann und die in den Berg gemeißelten Zimmer stets kühl waren. Ein Sklave mit gebücktem Rücken führte mich durch den Hof in einen Festsaal, der sich im Hauptgebäude befand. Als er die Tür zu diesem Raum öffnete, sah ich, wie Charmides sich gerade schläfrig von einer der Liegen erhob, die unordentlich im Raum standen. Dabei war es nicht mehr früh.

Das Festzimmer war groß und durch ein kleines Mäuerchen zweigeteilt. Es war reich geschmückt, aber es herrschte ein heilloses Durcheinander. Auf dem prächtigen Mosaikboden aus weißen und schwarzen Kieselsteinen lagen zerbrochene Krüge in ihren Lachen. Trinkschalen türmten sich auf den niederen Tischchen, die neben den Liegen standen. Stühle, Tücher und Kissen lagen herum. Es stank nach Wein, Schweiß und anderen menschlichen Ausdünstungen. Hier hatte es ein Gelage gegeben, und dafür war der Saal ganz offensichtlich auch bestimmt. Die Wände waren mit Szenen eines Bacchanals bemalt, das als fröhliches Fest beginnt und als Orgie endet: Auf der linken Wand sah man eine Gruppe von Männern beim Tranke. Zwei führten liegend die Schalen zu ihren Lippen, ein dritter stand zwischen ihnen und hielt eine Rede. Vielleicht ein Lob auf den Gastgeber, wie dies bei Symposien üblich ist. Das zweite Bild an der Stirnseite war schon wilder. Nun lagen alle drei Männer auf ihren Liegen, tranken und sahen gierig nach einem Jüngling und einem Mädchen hin, die mit Flöte und Chitara zwischen sie getreten waren. Auf dem dritten Bild waren der Knabe und die Nymphe nackt. Er zeigte sein steifes Glied und hielt es masturbierend in die Höhe. Sie tanzte um ihn herum, die wippenden Brüste und die rasierte Scham allzu deutlich gezeichnet, während zwei der Gäste klatschten, um die beiden anzufeuern, und der dritte im Trunke schon eingeschlafen war. Ich hatte wenig Zweifel, dass das Symposion, dessen Zeugen diese Mauern gestern geworden waren, nicht weniger ausschweifend verlaufen war, und einen Wimpernschlag lang sah ich eine Gruppe nackter Leiber, die sich im warmen Licht der Ölflammen vereinigten.