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Wir hatten uns kurz vor Sonnenaufgang gleich unterhalb vom Piräus-Tor getroffen, um Athen so schnell wie möglich zu verlassen. In der Dunkelheit wäre der Weg zu gefährlich gewesen. Wir hätten ihn kaum gefunden, so schwarz war diese erste Neumondnacht des Sommers. Die Zeit bis zum Morgengrauen hatte jeder genutzt, um in den Wohnungen und Häusern, die er verlassen musste, in aller Hast zusammenzusuchen, was er nach Piräus mitnehmen konnte, und um Abschied zu nehmen von der vertrauten Umgebung und unserer Stadt.

Ich hatte es leicht. Mein Hab und Gut war ohnehin schon bei Chilon, und dort erwarteten mich auch Aspasia und die Kinder. Ich hatte also nur wenig mitzunehmen und kaum etwas, was mich in Athen hielt. Aber Myson, Bias und seiner Frau fiel der Abschied schwer. Ich hatte kurz daran gedacht, mich von Raios zu verabschieden, aber irgendetwas hielt mich davon ab.

Während des ganzen Fußmarsches zur Hafenstadt hinunter ging mir eine Frage nicht aus dem Kopf: Wieso bloß hatte Anaxos mir schon am Tag nach meinem Treffen mit Alkibia-des zwei Schläger auf den Hals gehetzt? Hatte er mich damit einschüchtern wollen, damit ich ihm irgendeinen armen Teufel auslieferte, den man der Stadt, so schnell es nur ging, als Mörder Perianders vorführen konnte? Oder hatte Anaxos meinen Verdacht sogar auf Kritias lenken wollen, den Einzigen, der zu diesem Zeitpunkt wusste, dass Alkibiades mich mit der Suche nach dem Täter betraut hatte? Wieso wäre ihm Lysippos dann aber ein so willkommenes Opfer gewesen, wieso ihn foltern und ein falsches Geständnis von ihm erpressen?

Als wir das kleine Wäldchen verließen, mit welchem der ebene Weg nach Piräus beginnt, stand die Sonne schon über den Bergen. Der Himmel war wolkenlos und von tiefem, dunklem Blau. Klar versprach der Tag zu werden, von jenem durchsichtigen und reinen Licht, das nur Attika kennt. Ich musste an Sokrates denken, an eines der vielen Gespräche, die wir geführt hatten in den Jahren nach dem Tod meines Vaters. Wir waren auf einem Spaziergang an den Ufern des Ilisos.

«Was ist Wahrheit, Sokrates?», habe ich ihn gefragt.

«Wahrheit ist das Unverborgene. Wahrheit ist, was klar und offen zutage liegt», lautete seine Antwort.

Hier lag nun nichts klar zutage. Kritias hatte Periander getötet, damit der seine Pläne nicht verriet. Daran hatte ich keinen Zweifel. Aber war Anaxos eingeweiht? War es möglich, dass der Herr der Spione damals schon ein doppeltes Spiel spielte? Das konnte ich nicht glauben. Sonst hätte Anaxos gewusst, was es mit dem persischen Frachter auf sich hatte, der in jenen Tagen vor Anker ging, und an das Eine erinnerte ich mich genau: Anaxos war vom Auftauchen dieses Schiffes ebenso überrascht gewesen wie jeder andere Athener auch. Und ebenso wenig wie ich wusste er von der vergifteten Ladung, die es außer den Seidenballen in seinem Bauch barg. Die Verschwörung um Kritias war Anaxos entgangen, bis zu diesem Tag jedenfalls. Und danach? Konnte er auf sie aufmerksam geworden sein, durch den persischen Frachter und durch mich?

Irgendwo in mir keimte ein Verdacht. Es war, als öffnete sich in der Erde ein kleiner Bohnenkeim, aber noch sah ich nicht, was sich in seinen Schalen verbarg.

Wir sahen schon die Löschkräne in der Ferne aufragen, als Mys-on mich vorsichtig ansprach und damit aus meinen Gedanke riss.

«Ich wollte dir noch etwas sagen, Hauptmann», flüsterte er leise, damit Bias und seine Frau ihn nicht hörten.

Ich gab ihm ein Zeichen, dass ich zuhörte. Es lag mehr als die Hälfte des Weges hinter uns. Bisher hatten wir kaum miteinander gesprochen. Ich fühlte, wie die Trauer um den Verlust ihrer Häuser in den Herzen meiner Begleiter lag.

«Es gibt Nachrichten von Thrasybulos», begann Myson und gab sich eine unbeteiligte Miene. «Du weißt, er hält sich in Theben auf. Seitdem die Langen Mauern gefallen sind, hat er dreihundert Männer um sich gesammelt und vier Trieren bewaffnen können. Er will Kritias stürzen.»

«Hat er schon einen Plan?», fragte ich.

«Keinen endgültigen», entgegnete er. «Er denkt daran, Phy-le zu nehmen, um sich dort festzusetzen. Von da aus will er Athen angreifen. Es muss heimlich und schnell geschehen, damit Kritias keine Zeit bleibt, die Spartaner zurückzurufen.»

Bias, der einige Schritte vor uns ging, blieb stehen und rieb sich den Schweiß von der Stirn. Der Karren, den er hinter sich her zog, war viel zu schwer für ihn.

«Lass mich dir helfen, Bias. Ich löse dich ab!», bot Myson ihm an, aber Bias wehrte ab und zog seinen Wagen mit dem ganzen Stolz des kleinen Mannes weiter. Seine Frau sah ihn an, als wäre er ein dummer Junge.

«Von Phyle ist ein Angriff auf Athen sehr schwer», sagte ich, nachdem wir uns wieder in Marsch gesetzt hatten. Ich kannte die alte Festung einen halben Tagesmarsch von Athen entfernt. Sie lag auf einem kargen Felsen am Meer. Um ihre Mauern herum wuchsen nur Dornensträucher. Dort gab es weder Wasser noch Nahrung; Thrasybulos hätte von dort aus kaum seinen Nachschub organisieren können.

«Ich weiß», sagte Myson, «und Thrasybulos weiß es auch. Bisher hat nur niemand eine andere Möglichkeit entdeckt.»

«Vielleicht gibt es keine», sagte ich.

Es war später Vormittag, als wir Piräus erreichten. Ich war erstaunt, wie voll und wie lebendig die Hafenstadt wieder war. Überall waren Menschen, überall war Handel und Handwerk, und doch hatte sich etwas verändert. Obwohl Chilon es bereits erwähnt hatte, erkannte ich es erst auf den zweiten Blick: Es waren ungewöhnlich viele Athener hier! Da sprachen ein paar Kaufleute miteinander, die ich von der Agora her kannte. Dort arbeitete ein Schmied, dessen Hammerschläge bisher neben Raios' Haus niedergegangen waren. Die meisten von ihnen winkten uns zur Begrüßung zu. Sie schienen verstanden zu haben, wieso wir geflohen waren, und hießen uns nun als ihresgleichen willkommen.

Chilons Haussklave öffnete uns das Tor und ließ uns alle eintreten. Im Innenhof fand ich Aspasia mit den Kindern. Meine Söhne rannten mir entgegen und küssten mich. Aspasia dagegen schien mir zurückhaltender, als ich erwartet, und dabei doch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Chilon kam gleich aus dem Haus. Er wunderte sich noch nicht einmal, dass ich neben Myson nun auch noch Bias und seine Frau mitgebracht hatte. Er ließ sofort ein Frühstück für alle Neuankömmlinge auftragen, und bald hatte sich sein Innenhof in einen fröhlichen kleinen Festplatz verwandelt. Wir saßen auf Kissen und Teppichen an vier niedrigen Tischen. Ein gelbes Sonnensegel, das Chilon hatte spannen lassen, spendete Schatten und hüllte uns ein.

Aspasia kniete neben mir und reichte mir die Speisen, wie es sich für eine gute Ehefrau gehört. Nachdem wir die ersten Bissen verschlungen und den ersten Becher geleert hatten, verblassten die Schrecken der zurückliegenden Nacht wie Träume. Der tapfere kleine Bias, mein Lebensretter, lachte und begann ein Lied zu summen über die Freiheit und die Liebe. Die Zwergin, die eben noch verzweifelt über den Verlust ihrer Wohnung gewesen war, küsste ihn und stimmte mit einer herben und kehligen Stimme ein. Mysons Habichtgesicht erhellte sich. Er begann, einen Becher Wein in der Hand, ausführlich zu erzählen, wie Bias uns gerettet hatte, worauf die Zwergin ihren tapferen Mann noch einmal küsste. Sogar Lysias schien ein wenig heiterer als gestern. Nur Aspasia blieb schweigsam.

«Freust du dich nicht, dass ich wieder da bin?», fragte ich sie leise.

«Doch», antwortete sie, aber ihre Lippen blieben spröde und ihre Augen unbeteiligt. Sie war eine Frau, ganz würde ich sie nie verstehen. Um mich abzulenken, drehte ich mich zu Chilon, der gleich am Tisch neben mir saß.

«Du hattest recht», sagte ich, «es sind viele Athener in Piräus. Können sie hier denn ganz unbehelligt leben?»

«Ja, noch geht es», antwortete er aufgeräumt. «Wir leben recht geschützt und frei hier unten. Seitdem die Dreißig die Macht an sich gerissen haben, kommen jeden Tag Athener in Piräus an. Viele wollen mit den Schiffen weiterreisen, lassen sich dann aber bei uns nieder ...»