Выбрать главу

Die Nachrichten aus Athen dagegen wurden immer schlimmer. Tag für Tag kamen Menschen mit ihren Habseligkeiten aus der Stadt und suchten Unterschlupf in Piräus. Die Dreißig kannten kein Halten mehr. Die Vermögen der reichen Metöken waren ihnen nicht genug gewesen. Es verging kein Tag, ohne dass sie irgendein Haus plündern ließen. Wer sich widersetzte, wurde erschlagen; zur Abschreckung ließ man die Leichen liegen, bis die Krähen sich über die leblosen Körper hermachten. Die Opfer waren vornehmlich Demokraten, aber es konnte jeden treffen, der etwas besaß, das die Habgier eines der Dreißig weckte, mochte dies Geld, ein schnelles Pferd oder eine schöne Tochter sein.

«Was ist aus dem Versprechen geworden, dreitausend Bürger zu benennen und an der Regierung zu beteiligen?», fragte ich meinen alten Nachbarn Janos, der ein paar Wochen nach uns angekommen war.

«Oh, die Dreitausend gibt es», antwortete er. «Die Dreißig haben ihre Namen auf eine Liste schreiben lassen und geschworen, keinem von ihnen auch nur ein Haar zu krümmen.»

«Und halten sie sich an das Versprechen?»

Janos lachte. «Wie man es nimmt. Solange jemand auf der Liste steht, ist er sicher.»

«Aber?»

«Wenn Kritias es will, wird man sehr leicht wieder von der Liste gestrichen. Theramenes war der Erste. Jetzt ist er tot.»

«Was ist mit Raios?»

«Deinem Schwiegervater?»

«Ja.»

«Er steht auf der Liste», antwortete er.

Myson und ich waren uns einig: Wenn Athen überhaupt erfolgreich anzugreifen war, dann von Piräus aus. Dass seine Bewohner Thrasybulos allzu sehr unterstützen würden, glaubten wir zwar nicht. Sie waren zufrieden und würden es bleiben, solange die Bestechungsgelder für Charmides nicht allzu hoch würden. Aber gewiss würden sie sich Thrasybulos auch nicht in den Weg stellen und ihn mit allem, was er brauchte, versorgen. Die Athener Flüchtlinge dagegen mussten sich ihm anschließen, davon waren wir überzeugt. Das war ihre einzige Möglichkeit, ihre Häuser, Geschäfte und manchmal auch ihre Familien zurückzuerobern.

Von Piräus liefen beinahe täglich Schiffe nach Theben aus. Weil wir nicht wussten, wem wir vertrauen konnten, schiffte Myson selbst sich ein, um Thrasybulos von unserem Plan zu überzeugen. Lysias, der Geschäftsfreunde und Vermögen in Theben hatte, begleitete ihn. Er versprach, Thrasybulos' Armee auszurüsten, und er hielt Wort.

Nachdem Myson und Lysias Piräus verlassen hatten, wurde es ruhiger im Hause Chilons. Bias und seine Frau lebten noch dort, aber sie blieben ganz für sich und waren kaum zu sehen. Chilon war oft unterwegs bei seinen Patienten. Ungehindert besuchte und verließ er selbst Athen. Die Dreißig waren klug genug, die Ärzte zu verschonen. Dabei bekam er bald einen Begleiter, meinen großen Sohn. Der ließ keine Gelegenheit aus, um mit Chilon loszuziehen und ihm bei seiner Arbeit zur Hand zu gehen. Zehn Jahre alt war er jetzt, und offenbar hatte er am Beruf des Arztes nicht nur Interesse, sondern hierfür auch ein ganz besonderes Geschick.

«Was meinst du», fragte ich Chilon eines Abends, «hat er das Zeug zu einem Arzt?»

«Ganz sicher», antwortete mein Freund, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

Es hätten ruhige, glückliche Tage sein können, hätte Aspasia sich mir nicht so entzogen. Tagsüber verhielt sie sich gerade wie nur irgendeine brave und treusorgende Gattin. Sie weckte mich, bereitete mir Frühstück und Abendessen, hielt unsere Zimmer und Kleidung rein und hatte dabei noch die Verantwortung für Chilons Küche und Haushalt übernommen. Nachts indessen blieb sie abweisend. In der ersten Woche versuchte ich, mich ihr an beinahe jedem Abend zu nähern. Sie aber stieß mich jedes Mal zurück und von Mal zu Mal heftiger. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.

«Was ist mit dir, bin ich dir jetzt so zuwider, dass du meine Umarmung nicht mehr erträgst?», schrie ich sie an, nachdem sie sich mir wieder einmal verweigert hatte.

«Sei leise», zischte sie zurück, «sonst weckst du noch das halbe Haus!» Ihre Augen funkelten angriffslustig. Es war selbst in der Dunkelheit zu erkennen.

«Es ist Chilon, nicht wahr? Gib es zu, du hast mich betrogen!», sagte ich bedrohlich flüsternd.

«Was!», fuhr Aspasia auf und kümmerte sich keine Spur um ihre Lautstärke. «Du wagst es, an mir zu zweifeln? Nach den Wochen und Monaten, in denen du nichts hast von dir hören lassen! Was fällt dir ein?!»

«Was mir einfällt? Wieso wendest du dich ständig von mir ab?», fragte ich.

«Pah», machte sie nur und drehte sich um. Sie sprach keinen Ton mehr mit mir an jenem Abend, und ich begann, nachdem der erste Zorn verflogen war, zu grübeln. Sollte meine Zeit in Athen der Grund dafür sein, dass sie mich nun mied? Wusste sie denn nicht, dass ich in der Stadt hatte bleiben müssen, weil ... ich es meinen Söhnen schuldete? Oder war der Grund für ihre Kälte doch nur Chilon?

Chilon und Aspasia, Aspasia und Chilon. Die Vorstellung, die beiden könnten zusammen gelegen haben, versengte mir das Herz. Trotzdem hatte ich in den nächsten Tagen nichts Besseres zu tun, als überall nach einem Beweis für ihren Treuebruch zu suchen, wobei ich zugleich nichts mehr fürchtete, als ihn auch zu finden. Was würde ich tun, wenn es wahr wäre? Chilon erschlagen und Aspasia verstoßen? So wollte es das Gesetz. Aber was würde aus meinen Söhnen ohne ihre Mutter?

Ich wurde meinen Verdacht nicht los, fand aber auch keine Gewissheit. Ich beobachtete die beiden genau. Manchmal versuchte ich sie in dem falschen Glauben zu wiegen, sie seien allein: Kein Kuss, keine noch so flüchtige Umarmung war zu entdecken. Aber sie gingen vertraut miteinander um, vertraut und freundschaftlich. Sie lebten eben auch schon seit einigen Monaten unter einem Dach. Manchmal schien es mir jedoch, als behandelte Aspasia Chilon eher wie einen Bruder als wie einen Mann. Chilon wiederum zeigte Aspasia in meiner Nähe nichts anderes als Respekt. Und doch gab es etwas, das sie näher verband, als ich es ertragen konnte. Was dachten sie sich nur, wenn sich ihre Blicke trafen und sich einen Wimpernschlag zu lange festhielten?

Drei Monate warteten wir. Die Nachrichten, die Chilon von seinen Besuchen in Athen mitbrachte, wurden immer schlimmer. Die Menschen munkelten von Hunderten von Toten. Die Stadt habe sich zweigeteilt, berichteten sie. Hier gab es die Dreißig und - ihnen folgend - die Dreitausend. Ihnen gehörte die Stadt. Dort standen die anderen Bewohner, aber die waren weniger wert als das Vieh, viel weniger .

ξ

ein erster kleiner Regenschauer kündete das Ende des Sommers und das Heraufziehen des Herbstes an. Kaum benetzten die ersten Tropfen den festgebackenen Boden, schien die Natur, schienen Mensch und Tier aufzuatmen. Der Regen wusch den Staub von den Blättern, Hellas ergrünte. Die letzte Süße schoss in die Reben, die Wiesenblumen streckten die Köpfe. Die Erntezeit begann, Tag für Tag liefen Schiffe voller Korn im Kan-tharos ein. Die Händler füllten ihre Speicher. Dann erhoben sich die Winde. Boreas trieb vom Norden her dunkle Wolken nach Attika, Zephyros aus dem Süden versprengte sie und blies sie am nächsten Tag zurück.

Über Monate hatten wir nichts von Thrasybulos, Myson oder Lysias gehört und doch beinahe täglich eine Nachricht erwartet. Dann, am frühen Abend eines grauen und verwaschenen Tages, klopfte es an die Tür.

Ich hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt, so sehr hatte er sich verändert. Er war zum Anführer und Feldherrn gereift, und das spiegelte sich in seinem Gesicht. Sein Blick war entschlossener, seine Züge schärfer, aber auch eine Spur herrischer geworden. Auch ihn hatten weder Alter noch Schicksal verschont. Eine Narbe lief ihm über die Stirn. Dort, wo sie endete, war sein Haar nun grau.

«Thrasybulos, mein Freund! Wir haben lange auf dich gewartet!», empfing ich ihn, als er in den Innenhof trat.