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«Thrasybulos hat Kritias' Leiche nach Piräus bringen lassen», antwortete Lykon in ruhigem Ton. «Ich bitte dich, mit ihm zu sprechen, damit er sie herausgibt. Ich möchte Kritias beerdigen.»

«Ich spreche mit ihm», antwortete ich sofort, «aber unter einer Bedingung.»

Lykon verstand, ohne dass ich weitersprechen musste.

«Du willst wissen, wie alles geschah», sagte er.

«Ich muss», antwortete ich.

«Das habe ich erwartet», sagte Lykon und presste die Lippen zusammen. Dann seufzte er tief und begann: «Du weißt, dass ich Kritias schon kannte, als wir ihn in Perianders Elternhaus trafen. Ich war ihm ein paar Tage vorher in der Palaistra begegnet. Ich war mit meinen Kameraden dort. Er kam zu uns, setzte sich zwischen mich und meine Kameraden und schenkte jedem eine Drachme. Jeder Junge wetteiferte um ihn, und ich wollte es ihnen zeigen. Ich wollte der Schönste sein, wollte gefallen. Ich habe Kritias verliebte Augen gemacht und ihm etwas auf der Flöte vorgespielt. Ich hatte Erfolg. Er lud mich zu sich ein. Wir verbrachten einen Nachmittag miteinander. Am nächsten Tag sahen wir uns wieder und am Abend darauf auch. Wie das eben so geht. Irgendwann lud er mich zu einem Gastmahl. Er bat mich, ihm und seinen Freunden Gesellschaft zu leisten. Ich sollte ihnen ein wenig auf der Flöte vorspielen, ein wenig tanzen. Du kannst dir vorstellen, wie stolz ich war. Der reichste Mann Athens machte mir den Hof, mir ...»

«Deswegen hatten wir uns zuletzt so wenig gesehen ...»

Lykon nickte.

«Und du warst bei diesem Gelage», stellte ich fest.

Wieder nickte er.

«Wer waren die Gäste?», fragte ich.

«Es waren nicht viele. Ein kleiner Kreis, wie Kritias sagte, aber die meisten kennst du. Der Bankier Pasion war da, Charmides, Glaukon, Kritias selbst, ich und Periander.»

«Periander», wiederholte ich, «ich dachte es mir. War Platon auch dabei?»

«Nein, nur sein Bruder ...» Lykon stockte, als fiele ihm die Erinnerung schwer.

«Sprich weiter», bat ich ihn.

Er schlug die Augen nieder und fuhr fort.

«Der Abend begann wundervoll. Kritias hatte die Terrasse und den Garten für das Fest herrichten lassen: seidene Kissen, Lampions in den Bäumen ... Neben jeder Liege stand ein Sklave, der dem Gast Wind zufächerte. Wir wurden von fünf jungen Mädchen bedient, jedes von anderer Haarfarbe, jedes von anderer Hautfarbe. Die eine war von blassestem Weiß, die nächste schon ein wenig dunkler, die fünfte schließlich schwarz wie eine Stück Kohle. Sie waren in hauchdünne seidene Gewänder gehüllt, und mit jedem Gang, den sie auftrugen, ließen sie ein Kleidungsstück fallen .»

«Erspar mir Einzelheiten», sagte ich scharf. Ich konnte mir das Gelage ohnehin schon viel zu gut vorstellen. Die Bilder in Charmides' Festsaal, der Flötenspieler, die nackte Tänzerin und die betrunkenen Männer vermischten sich mit Lykons Bericht. Ich sah Kritias' Garten, die Pfauen, die über die Wiese stolzierten, sah Lykon, nackt und verwöhnt neben seinem neuen Liebhaber, der ihn streichelte und liebkoste ...

«Alle waren fröhlich und ausgelassen, nur Periander nicht. Er saß da, trank Unmengen und machte eine Leichenbittermiene. Kritias wollte ihn aufmuntern und bat die Mädchen, einen kleinen Tanz aufzuführen - nur für ihn. Also stellten sie sich um seine Liege, wiegten sich in den Hüften und tanzten für ihn. Stell dir vor, er hat sie noch nicht einmal angesehen.

Irgendwann verlor sogar Kritias die Geduld, und er fragte Periander, was er nur habe. <Das weißt du genau>, antwortete der, schon ganz betrunken. <Ich bitte dich, Periander. Doch nicht heute vor den Gästen>, sagte Kritias beschwörend und zeigte auf mich. Er wollte nicht, dass ich von ihrem Streit etwas erfuhr. <Doch, heute!>, schrie Periander und stand schwankend auf. Ich weiß noch, wie er uns angesehen hat, sein Blick war voller Abscheu. Er zog eine Buchrolle aus seinem Ärmel und schleuderte sie vor Kritias auf den Boden. <Da hast du dein Buch>, schrie er. <Was willst du sein? Edel? Ein Verräter bist du und ein Perserfreund dazu! Ich werde es nicht zulassen, dass du Athen dem Feind auslieferst!> Und dann spuckte er Kritias ins Gesicht - vor seinen Freunden und Gästen. Wir waren entsetzt ... Aber weißt du, was Kritias getan hat?»

«Natürlich weiß ich das. Er hat Periander umgebracht!»

«Aber nein, Nikomachos. Ich sagte dir schon, Kritias hat Periander nicht getötet. Er stand auf und umarmte ihn. Du musst dir vorstellen: vor all denen, die gesehen haben, wie sehr er beleidigt worden war, umarmte er ihn. Kritias hat Periander sehr geliebt, musst du wissen ... Wie einen Sohn geliebt, wenn du verstehst.»

«Was geschah weiter?»

«Periander stieß Kritias heftig zurück und rannte davon. Kritias fiel über ein Tischchen, stand aber gleich wieder auf. <Lasst ihn gehen! Er wird sich beruhigen>, sagte er, sobald er wieder auf den Füßen war. Aber da hatte schon einer die Buchrolle aufgehoben und war Periander hinterhergerannt. Unter normalen Umständen hätte niemand Periander einholen können, aber er war betrunken. <Es wird schon nichts geschehen>, sagte Kritias, ließ die Becher neu füllen und die Mädchen tanzen. Schließlich bat er mich, Flöte zu spielen. Der Zwischenfall war schnell vergessen . Es war ein schöner Abend. Bis er zurückkam - blutverschmiert und weinend wie ein Kind.»

«Wer war es?»

«Hast du noch immer nicht verstanden?», fragte Lykon und sah mich fast mitleidig an. «Du hast dich so verrannt in die Vorstellung, Kritias hätte Periander umgebracht, dass du nicht nach rechts und nicht nach links gesehen hast ... Dabei warst du nahe dran.» Lykon hielt mir seine Hand vor das Gesicht und zeigte mir Daumen und Zeigefinger, die sich fast berührten. «Überlege einfach! Du bist doch sonst so klug. Wen konnte Kritias Perianders Familie unmöglich ausliefern, auch wenn er es noch so sehr gewollt hätte?»

«Pasion! Ihn brauchte er für seine Verschwörung am allernötigsten», antwortete ich.

«Aber nein, Pasion ist ein alter Mann! Er hätte niemanden erschlagen können.»

«Kritias würde nie einen Verwandten ausliefern: Also Char-mides!» Auch diese Antwort kam schnell und unüberlegt.

«Charmides ist träge ...», seufzte Lykon.

Alles begann sich in mir zu drehen. Wieder stiegen die Bilder des Symposions in mir auf. Ich sah die Lichter in den Bäumen, die Mädchen in ihren durchsichtigen Gewändern, Periander, wie er Kritias betrunken und verzweifelt von sich stieß und wegrannte. Und endlich sah ich ihn - den einen, den ich bisher übersehen hatte, wie ihn jeder übersah. Ich erkannte seine schlaksige Gestalt, den kleinen Kopf auf dem breiten Hals. Es war, als stünde ich neben ihm, während er die Buchrolle aufhob. Sie war ihm gerade vor die Füße gerollt. Er las den Titel, erkannte Perianders Absicht und ergriff die Gelegenheit, die sich ihm bot. Endlich konnte er bedeutend, konnte er wichtig sein, nicht immer nur das missratene Kind neben dem hochbegabten Bruder, das alle nur dulden, weil es aus einer reichen Familie stammt. Bedeutend sein, bedeutend .

«Glaukon», sagte ich endlich und erwachte wie aus einem Traum.

Lykon nickte und betrachtete mich für einen Augenblick mit einer Offenheit, die ich noch nie an ihm gesehen hatte. Es gab keinen Zweifel. Hier endlich lag die Wahrheit zutage, klar und unverborgen.

«Was ist Wahrheit, Sokrates?», hatte ich einst gefragt.

«Wahrheit ist das Unverborgene. Wahrheit ist, was klar und offen zutage liegt», lautete die Antwort.

Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und legte die Hände vor mein Gesicht. Platons Bruder, kein anderer. Wie hatte ich ihn übersehen können? Wenn Platon gegen irgendjemanden nichts unternehmen würde, noch nicht einmal wegen des Mordes an seinem Geliebten, dann gegen ihn, den Bruder, so missraten und selbstsüchtig er auch sein mochte. Und ich hatte noch nicht einmal mit ihm gesprochen!