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»Geh wieder ins Bett, Miss Flavia«, raunte mir jemand heiser ins Ohr.

Es war Dogger.

»Das hier geht dich nichts an«, flüsterte er. »Geh wieder ins Bett.«

Er lockerte seinen Griff. Ich riss mich los und warf ihm einen giftigen Blick zu.

Obwohl kein Licht brannte, konnte ich erkennen, dass sein Blick ein bisschen milder wurde.

»Zisch ab!«, raunte er.

Also zischte ich ab.

In meinem Zimmer ging ich eine ganze Weile wütend auf und ab, wie immer, wenn mir jemand einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Ich ließ mir das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Vater ein Mörder? Ausgeschlossen! Wahrscheinlich gab es eine ganz harmlose Erklärung. Hätte ich doch nur den Rest der Unterhaltung mit angehört … Hätte mich Dogger bloß nicht erwischt! Was bildete der Kerl sich überhaupt ein?

Dir werd ich’s zeigen, dachte ich.

»Und zwar ohne viel Federlesens!«, verkündete ich laut.

Ich ließ José Iturbi aus seiner grünen Papierhülle gleiten, zog mein tragbares Grammophon tüchtig auf, legte die zweite Seite von Chopins Polonaise in As-Dur auf den Plattenteller, warf mich aufs Bett und sang schallend:

»DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah …«

Es klang wie die Begleitmusik zu einem Film, in dem jemand einen alten Bentley ankurbelt, der andauernd stotternd wieder ausgeht. Nicht gerade das, womit man sich sanft ins Land der Träume wiegen lässt …

Als ich die Augen aufschlug, stahl sich perlgrau die Morgendämmerung zum Fenster herein. Die Zeiger meines Messingweckers standen auf 3:44 Uhr. Mit der Sommerzeit wurde es immer sehr früh hell, und in nicht mal einer Viertelstunde würde die Sonne aufgehen.

Ich reckte mich gähnend und kletterte aus dem Bett. Der Plattenspieler war längst stehen geblieben, mitten in der Polonaise; die Nadel lag reglos auf der Rille. Ich erwog flüchtig, ihn wieder aufzuziehen und das Haus mit einem polnischen Weckruf zu beglücken, aber dann fiel mir ein, was erst vor wenigen Stunden geschehen war.

Ich ging zum Fenster und schaute in den Garten hinunter. Dort lag der Geräteschuppen mit seinen taubeschlagenen Scheiben, und der kantige Umriss dort drüben war Doggers umgekippte Schubkarre, die er in der Aufregung des Vortags einfach hatte liegen lassen.

Ich beschloss, die Schubkarre zur Wiedergutmachung richtig hinzustellen, auch wenn ich selbst nicht recht wusste, was ich eigentlich bei Dogger wiedergutzumachen hatte. Trotzdem zog ich mich an und ging leise die Hintertreppe zur Küche hinunter.

Als ich am Fenster vorbeikam, fiel mir auf, dass jemand Mrs Mullets Kuchen angeschnitten hatte. Merkwürdig, dachte ich, denn von uns de Luces war es bestimmt niemand gewesen. Falls es irgendetwas gab, worin wir uns einig waren, etwas, das uns als Familie zusammenhielt, dann war es die einmütige Abneigung gegenüber Mrs Mullets Schmandkuchen.

Jedes Mal, wenn sie statt der von uns geschätzten Rhabarberoder Stachelbeerkuchen einen ihrer gefürchteten Schmandkuchen produzierte, ließen wir uns entschuldigen, täuschten irgendwelche familiären Seuchen vor und schickten sie mitsamt dem Kuchen sowie unseren allerbesten Grüßen schnurstracks nach Hause zu ihrem Gatten Alf, damit sie ihr Machwerk an selbigen verfütterte.

Als ich ins Freie trat, sah ich, dass das silbrige Licht der Morgendämmerung den Garten in ein Zauberland verwandelt hatte, dessen nächtliche Schatten vom schmalen Streifen des Tages jenseits der Mauern noch vertieft wurden. Über allem lag funkelnder Tau, und es hätte mich nicht im Geringsten gewundert, wenn hinter einem Rosenstrauch ein Einhorn hervorgetreten wäre und mir den Kopf in den Schoß gelegt hätte.

Dicht vor der Schubkarre stolperte ich und plumpste auf Hände und Knie.

»Scheiße!«, fluchte ich und sah mich sofort um, ob mich womöglich jemand gehört hatte. Ich war mit feuchtem schwarzem Lehm verschmiert.

»Scheiße!«, wiederholte ich etwas gedämpfter.

Als ich mich umdrehte, um nachzuschauen, was mich da zu Fall gebracht hatte, fiel mein Blick sogleich auf etwas Weißes, das aus dem Gurkenbeet ragte. Ganz kurz gestattete ich mir die verzweifelte Hoffnung, es möge sich vielleicht um einen kleinen weißen, dreisten Rechen handeln.

Letztendlich siegte jedoch die Vernunft, und ich musste mir

Und dort, am Ende des Armes, von den zart leuchtenden Blättern in ein scheußliches, taufeuchtes Gurkengrün getaucht, war ein Gesicht - und es glich aufs Haar der Fratze des Grünen Mannes aus unseren Sagen und Legenden.

Einem Drang gehorchend, der starker als mein Wille war, ließ ich mich auf alle viere neben meiner Entdeckung nieder: teils aus Ehrfurcht, teils, weil ich das Gesicht näher betrachten wollte.

Als ich wir schon beinahe mit den Nasen zusammenstießen, klappten die Augenlider mit einem Mal auf.

Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich mich nicht rühren konnte.

Der Liegende holte röchelnd Luft … und hauchte dann, mit Blubberbläschen vor den Nasenlöchern, ein einziges Wort, bedächtig und ein wenig traurig, mir mitten ins Gesicht:

»Vale«, sagte er.

Ich rümpfte unwillkürlich die Nase, als ich den Anflug eines ganz bestimmten Geruchs wahrnahm - ein Geruch, dessen Bezeichnung mir, wenn auch nur einen Augenblick lang, auf der Zunge lag.

Die Augen, blau wie die Vögel auf unserem chinesischen Porzellan, schauten zu mir auf, als käme ihr Blick aus einer unbestimmten, fernen Vergangenheit - und als läge ganz tief in ihnen so etwas wie eine Erkenntnis.

Dann brachen sie.

Ich würde gerne behaupten, dass ich tief ergriffen war, aber das wäre gelogen. Ich würde gern behaupten, dass mir mein siebter Sinn befahl, schleunigst die Flucht zu ergreifen, aber auch das würde nicht der Wahrheit entsprechen. Stattdessen sah ich fasziniert hin und prägte mir alles ganz genau ein: die krampfartig zuckenden Finger, die kaum erkennbare bronzefarbene,

Und dann diese absolute Stille.

Ich würde gerne behaupten, dass ich mich gefürchtet hätte, aber das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Es war das mit Abstand Spannendste, was ich je erlebt hatte. 

3

Ich rannte die Westtreppe hoch. Mein erster Gedanke war, Vater zu wecken, aber eine Art unsichtbarer Riesenmagnet hielt mich zurück. Daffy und Feely brauchte ich gar nicht erst zu holen; auf sie war in Notfällen sowieso kein Verlass. Darum huschte ich möglichst geräuschlos in den hinteren Trakt und klopfte leise an die Tür des kleinen Zimmers am oberen Ende der Küchentreppe.

»Dogger!«, raunte ich. »Ich bin’s, Flavia.«

Von drinnen war nichts zu hören, darum klopfte ich noch mal.

Nach schätzungsweise zweieinhalb Ewigkeiten hörte ich Doggers Pantoffeln schlurfen. Das Türschloss klickte und knirschte, dann wurde die Tür argwöhnisch ein paar Zentimeter geöffnet. Im fahlen Morgenlicht sah Doggers eingefallenes Gesicht aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.

»Unten im Garten liegt eine Leiche«, verkündete ich. »Ich glaub, es ist besser, wenn du mal mitkommst.«

Während ich von einem Fuß auf den anderen trat und an den Fingernägeln kaute, warf mir Dogger einen Blick zu, den man nur vorwurfsvoll nennen konnte; dann verschwand er im dunklen Zimmer, um sich etwas überzuziehen. Fünf Minuten später standen wir nebeneinander auf dem Gartenweg.

Man merkte, dass Dogger schon mehr als eine Leiche gesehen hatte. Er kniete sich hin und tastete mit Zeige- und Mittelfinger

Er stand schwerfällig auf und wischte sich die Hände an der Hose ab, als wollte er sich nicht anstecken.

»Ich sag dem Colonel Bescheid«, brummte er.

»Müssen wir denn nicht die Polizei rufen?«, wandte ich ein.

Dogger strich sich mit den langen Fingern über das unrasierte Kinn, als grübelte er über eine Frage von weltbewegenden Konsequenzen nach. Was die Benutzung des Telefons anging, herrschten auf Buckshaw strenge Vorschriften.