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Mr. Hitchens folgte ihrem Blick. Seine Augen wurden schmal. »Die schwärzeste Aura, die ich seit langem gesehen habe«, erklärte er unangenehm berührt und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Dieser Mann hat eine eindeutige Ausstrahlung von Gewalttätigkeit.«

»Innerlich oder äußerlich?« fragte Mrs. Pollifax interessiert.

»Wenn jemand ein Mörder ist«, erwiderte Mr. Hitchens voller Abscheu, »ist es dann wichtig, ob ein innerer Zwang besteht oder ein äußerer Anreiz?«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete Mrs. Pollifax. »Zufällig betrat ich die Maschine in der Schlange direkt hinter diesem Mann und trat ihm aus Versehen auf die Ferse. Er bedachte mich mit einem Blick, als wollte er mich... nihilieren.«

Mr. Hitchens nickte. »Ein sehr zutreffendes Wort, dessen Stamm >nihil< soviel bedeutet wie >in Nichts auflösen< -zerstören. Doch erzählen Sie mir mehr von dieser Zigeunerin, die Sie vorhin erwähnt haben. Das interssiert mich.«

Mrs. Pollifax erzählte ihm ihre Erlebnisse mit der Zigeunerkönigin Anyeta Inglescu, und ehe sie sich versah, befanden sie sich mitten in einem überaus faszinierenden Gespräch über übersinnliche Erfahrungen, über Heilung durch Glauben, Vorahnungen, Energiezustände und Vorherbestimmung. Außerdem erfuhr sie, daß Mr. Hitchens ebenfalls im Hongkong-Hilton wohnen würde.

»Was halten Sie davon, wenn wir nach unserer Ankunft zusammen frühstückten?« schlug er vor.

»Werden Sie nicht von Ihrem Freund abgeholt?« fragte sie überrascht.

»Nein. Ich bestand darauf«, erzählte er, »denn ich möchte zunächst meine eigenen Eindrücke gewinnnen... « »Schon wieder dieses Wort«, lächelte Mrs. Pollifax. »...und mich dann für ein paar Stunden ausruhen, meditieren und meinen Kopf freibekommen. Mein junger Freund wird mich gegen Mittag anrufen: wir werden zusammen essen und dann mit der Arbeit beginnen. Doch ich muß sagen, ich finde Ihre Gesellschaft sehr anregend und nicht im geringsten störend, sodaß Sie mir eine große Freude bereiten würden.« Er lächelte zum ersten Mal seit sie ihn kennengelernt hatte. »Es sei denn, Sie haben andere Pläne?«

Mrs. Pollifax versicherte ihm, daß sie keine anderen Pläne habe und sehr gerne mit ihm frühstücken würde. Dann fielen sie beide in einen unruhigen Schlaf, während sie in fortwährender Morgendämmerung und durch mehrere Zeitzonen ihrem Ziel entgegenflogen. Als die Maschine schließlich Stunden später auf dem Kai-Tak-Airport von Hongkong landete, betraten sie mit weichen Knien und, aufgrund der Zeitverschiebung, mit ungutem Gefühl in der Magengegend asiatischen Boden.

An der Paßkontrolle stand der Hagere mit dem pok-kennarbigen Gesicht erneut vor Mrs. Pollifax in der  Schlange der Wartenden. Wie sie feststellte, war es ein kanadischer Paß, den er dem Uniformierten zuschob, und später, am Gepäckkarussell, griff er nach einem sehr teuer aussehenden und offenbar sehr schweren Schweinslederkoffer und verschwand in der Menge. Sie verlor ihn aus den Augen und nach einer schier endlosen Wartezeit an der Zollabfertigung trat Mrs. Pollifax schließlich - in Begleitung von Mr. Hitchens - in die klare, noch immer etwas kühle Morgenluft von Hongkong.

»Die Sonne scheint!« seufzte sie glücklich und sog die würzige Seeluft tief in ihre Lungen. Noch besaß die Sonne nicht die Kraft, alles mit dem goldenen Schein des tropischen Mittags zu überziehen, doch das silberne Morgenlicht, das sie über den blauen Hafen warf, tauchte die Felsen in der Bucht und die Fassaden der Häuser in einen zauberhaften Glanz. »Dort drüben liegt Hongkong«, erklärte Mrs. Pollifax und deutete auf die Reihen weißer Gebäude, die sich jenseits der Bucht, entlang der steilen Bergflanken, erstreckten.

Im hellen Licht der Morgensonne hatten Mr. Hitchens Augen beinahe die Farbe von Quecksilber angenommen. Sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. »Wunderschön«, murmelte er. »Fast wie die weißen Klippen von Dover.«

Sie stiegen in ein Taxi und verließen Kowloon, tauchten in einen schier endlosen Tunnel, und als sie wieder ans Tageslicht kamen, befanden sie sich bereits in Hongkong. »Das ist der Rest der britischen Kronkolonie, der den Engländern bleibt, wenn sie 1997 Kowloon und die anderen Neuen Territorien an Rotchina zurückgeben müssen«, wandte sich Mrs. Pollifax an ihren Begleiter.

»Zurückgeben?« wunderte sich Mr. Hitchens. »Sie müssen entschuldigen, aber ich verstehe nicht ganz...«

»Diese Gebiete«, erklärte Mrs. Pollifax, »sind an Großbritannien lediglich verpachtet worden. Wenn ich mich nicht irre, wurde Hongkong Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet -das hatte alles irgendwas mit dem Opiumhandel zu tun - und da die Stadt auf einer sehr kleinen Insel von weniger als einhundert Quadratkilometern errichtet wurde und mit den Jahren einen wahren Boom erlebte, breitete sie sich nach Kowloon hinüber aus. Deshalb war Großbritannien gezwungen, mit China einen Pachtvertrag für die Neuen Territorien abzuschließen. Angeblich fällt der Kurs des Hongkong-Dollars jedesmal bis in den Keller, wenn zwischen China und Großbritannien die Bedingungen der Übergabe im Jahr 1997 verhandelt werden. China ist nicht bereit, auf die Erfüllung des Abkommens zu verzichten.«

»Alles ist hier also vergänglich«, bemerkte Mr. Hitchens. »Wie das Leben selbst, könnte man sagen.« '

Sie lächelte und stellte erneut fest, daß sie seine Gegenwart als äußerst angenehm empfand; sie half ihr, sich daran zu gewöhnen, ohne Cyrus unterwegs zu sein. Wie verwöhnt sie doch mit der Zeit geworden war, dachte sie, ohne daß es ihr bisher aufgefallen wäre.

»Man könnte fast glauben, in Manhattan zu sein«, stellte Mr. Hitchens später verdrießlich fest. »Meine weißen Klippen sind zu Banken, Hochhäusern und Hotels verkommen! Nur die Gesichter in den Straßen sind anders. .. «

»Ja«, nickte sie. »Sie sind anders. Schließlich sind 98 Prozent der Bevölkerung Hongkongs Chinesen. Aber die Diplomatenkoffer sind die gleichen, nicht wahr?«

»Sie sind offensichtlich sehr gut informiert«, bemerkte :Mr. Hitchens.

Sie verschwieg, daß Bishop ihr auf der langen Fahrt zum Flughafen einiges über Hongkong sowie eine Reihe interessanter historischer Anekdoten erzählt hatte, die Mr. Hitchens zweifellos in Erstaunen versetzt hätten.

»Viel mehr weiß ich auch nicht, muß ich zugeben - und außerdem ist der Tag viel zu schön für Fakten und Daten. Ich war letztes Jahr schon mal hier, für eine Nacht...«

»Ich war in meinem ganzen Leben noch nie außerhalb der Vereinigten Staaten«, platzte Mr. Hitchens heraus.

Dieses rührende Eingeständnis überraschte sie. Sie erinnerte sich nur zu gut, wie verunsichert sie auf ihrer ersten Auslandsreise gewesen war, wie verwirrt und ausgeliefert sie sich während der ersten Tage gefühlt hatte. Mit einem Male freute sie sich, daß sie gemeinsam frühstücken würden.

Ihr Taxi hielt mit quietschenden Bremsen vor dem Eingang des Hongkong-Hilton. Man half ihnen aus dem Wagen, und die Pagen des Hotels bemächtigten sich ihres Gepäcks. Sie stiegen die Stufen zur riesigen Hotelhalle empor, wo Mr. Hitchens, nachdem er sich eingetragen hatte, Zimmer 601 bekam, während man Mrs. Pollifax den Schlüssel zu Zimmer 614 überreichte.

»Dasselbe Stockwerk«, murmelte Mr. Hitchens.

»Wir sind praktisch Nachbarn«, bestätigte sie und wandte sich erneut an den Angestellten an der Rezeption. »Und wo gibt es Frühstück?« erkundigte sie sich.

»Im Goldenen-Lotus-Saal«, erwiderte der Angestellte, beugte sich über den Schalter und deutete in die Richtung.

»Ich würde mich sehr gerne vorher rasieren«, sagte Mr. Hitchens. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns in einer halben Stunde dort treffen?«

»Schön... Wenn ich mich recht erinnere, gibt es ein Frühstücksbuffet mit Papayas, Melonen und allem, was das Herz begehrt.«