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Bei seiner Ankunft in Chestnut Hill war Wilbur gesund gewesen, aber noch immer zu klein und zu dünn. Er lag in einer Trage, für die man im Krankenhaus gesammelt hatte, und sein Kopf verdeckte die auf das Kissen gestickten Buchstaben W, I, L und B. Seine Augen waren groß und dunkelbraun, und Warren Clarence Rush, der Direktor des Heims, war versucht, Resignation darin zu erkennen.

Wilbur, inzwischen fast drei Monate alt, legte dank eines neuen Speiseplans stetig an Gewicht zu. Hatten die Schwestern im Saint Francis ihn noch ausschließlich mit der Flasche gefüttert, so wurde er hier auch mit Getreide- und Obstbrei, Vitamintropfen und Lebertran aufgepäppelt. Die Flasche, an der Wilbur scheinbar gelangweilt nuckelte, während er die Decke musterte, gab es nur noch zweimal pro Tag. Lawrence besorgte vom benachbarten Bauern Stutenmilch, die besonders nahrhaft war und die er mit eigenem Geld bezahlte. Er ließ nie locker, bevor Wilbur alles gegessen und getrunken hatte, wog den Jungen und ließ seine Frau das Gewicht in eine Liste eintragen, stolz, dass täglich ein paar Gramm dazukamen.

Alice Krugshank war mit einem Meter vierundachtzig drei Zentimeter größer als ihr Mann und überragte sämtliche weiblichen Kräfte in Chestnut Hill um mindestens zehn. Sie hatte rötliches Haar, und ihre Haut war von einer Helligkeit, die Lawrence verliebt perlmuttern und alabastern, sie selber aber einfach bleich nannte. Ihre Körperlänge und ihr sicheres Auftreten, das mit einer dunklen, festen und gleichzeitig warmen Stimme einherging, kaschierten geübt ihre tiefe Traurigkeit, von der niemand in ihrem Umfeld etwas ahnte und nur Lawrence wusste. Aber nicht einmal ihr schlafender Mann bemerkte es, wenn ihr Körper neben ihm zu zittern begann, wenn sie die Finger ins Laken krallte und die Tränen niederkämpfte. Er hörte sie nicht, wenn sie darauf wartete, dass das Toben in ihrem Brustkorb verebbte, und sie leise die Namen der Mädchen aufzählte, die gerade in Chestnut Hill lebten.

Vor zweieinhalb Jahren hatte Alice von ihrer Krebserkrankung erfahren. Eine Woche später wurde alles, was sie ihrer Meinung nach zur Frau machte, aus ihr herausgeschnitten. Der letzte Gedanke, den sie vor der Operation fassen konnte, war, dass sie nicht mehr aufwachen wollte. Sie hatte Lawrence in der Suppenküche in Newcastle, Delaware, kennengelernt, wo sie beide an den Sonntagen als freiwillige Helfer arbeiteten. Schon damals, während sie den Obdachlosen die Teller füllten, hatte er ihr vorgeschwärmt, wie groß seine Familie einmal sein würde. Lawrence war ein Mann, der den Sinn des Lebens darin sah, mit der Frau, die er liebte, mindestens fünf Kinder zu haben. Alice war diese Frau, und obwohl sie die Zahl der Sprösslinge auf drei reduzieren wollte, heirateten die beiden, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte. In den Flitterwochen plagten Alice Unterleibskrämpfe, und sie ging zum Arzt. Als der nichts finden konnte und die Schmerzen stärker wurden, schickte er sie zu einem Spezialisten.

Sie wollte Lawrence zuliebe sterben. Er würde eine andere Frau finden, das musste er ihr versprechen. Er verbot ihr, so zu reden, und als sie aus der Narkose aufwachte, erzählte er ihr von seinen Plänen, in einem Waisenhaus zu arbeiten. So werde er ständig mit Kindern zusammen sein und es überhaupt nicht vermissen, keine eigenen zu haben. Alice gab vor, ihm zu glauben, aber sie wusste, dass er nicht glücklich sein konnte. Und dass sie schuld daran war.

Zum ersten Mal hatte Lawrence von Adoption gesprochen, als er Alice dabei zusah, wie sie Wilbur die Fingernägel schnitt. Sie tat das mit großer Sorgfalt und Vorsicht, gleichzeitig aber mit einer Selbstverständlichkeit, wie Lawrence sie aus Kindertagen von seiner Mutter kannte. Obwohl Wilbur demonstrativ an die Decke sah und kein Interesse daran zu haben schien, was mit ihm gemacht wurde, redete Alice die ganze Zeit sanft auf ihn ein, als müsse sie ihm versichern, dass ihm nichts passieren konnte. Ihre dunkle, sonore Stimme löste etwas in Wilbur aus, von dem er nicht wusste, woher es kam. Etwas Verschüttetes, Vergessenes wurde halbwegs freigelegt, an das sich nicht sein Hirn erinnerte, sondern sein Bauch.

Jetzt badete Alice Wilbur, und wieder sprach Lawrence von der Möglichkeit, den Jungen zu adoptieren. Alice, die ihren Mann eben noch getadelt hatte, weil er mit Wilbur so lange in der Kälte gestanden hatte, nur um ihm das Pferd zu zeigen, antwortete nicht gleich. Von einer Beamtin der Adoptionsbehörde, bei der Lawrence jede Woche anrief und seinen Charme spielen ließ, wussten sie, dass Wilbur Verwandte hatte. Wer diese Menschen waren und wo sie lebten, durfte die Frau ihnen nicht sagen, ebenso wenig, ob sie sich um das Sorgerecht für Wilbur bemühten. Lawrence hatte in Erfahrung gebracht, dass Maureen Sandberg, geborene McDermott, fünf Tage nach ihrem Tod kremiert worden war, wie es ihre Eltern veranlasst hatten. Wo Wilburs Großeltern wohnten, hatte er nicht herausfinden können, aber er meinte, sie seien bestimmt zu alt, um ihren Enkel bei sich aufzunehmen, und weder die Verstorbene noch der verschwundene Vater schienen Geschwister zu haben.

Alice hob Wilbur aus der Wanne und trocknete ihn ab. Sie liebte dieses wunderliche, ernste Geschöpf, und der Gedanke, es weggeben zu müssen, brach ihr das Herz. Aber sie wollte sich nicht verletzen lassen, wollte das Verstreichen der Frist abwarten und dann den Adoptionsantrag stellen. Das sagte sie ihrem Mann auch jetzt wieder, und Lawrence, der so viel mehr gedankenlose Zuversicht besaß als sie, nickte. Besser als irgendjemand verstand er, warum es für sie unmöglich war, sich auf eine neue Hoffnung und das unsichere Glück mit Wilbur einzulassen.

Erst vor einem halben Jahr hatte Alice damit begonnen, nicht mehr nur das Sekretariat zu leiten, sondern sich nach Feierabend und an den Wochenenden auch um die Kinder zu kümmern, deren Akten sie führte. Davor hatte Lawrence sie regelmäßig und möglichst beiläufig gefragt, ob sie ihm mit dem einen oder anderen Jungen helfen könne, bis sie irgendwann, seine Absicht ahnend, eingewilligt hatte. Erst sollte sie einem Achtjährigen zur Hand gehen, der unbedingt ein Pferd zeichnen wollte. Einer hatte sich vorgenommen, heimlich stricken zu lernen. Einem anderen brachte sie bei, eine Krawatte zu binden.

Innerhalb weniger Wochen lernte Alice alle Jungen kennen und hatte plötzlich ein Gesicht, eine Stimme, meistens sogar eine Geschichte zu den Namen. Wenn sie jetzt eine Akte anlegte oder neue Einträge in bestehende machte, kannte sie das Kind, das dahinterstand. Jetzt wusste sie, woher der kleine Rodney Summers kam und warum er sich im Geräteschuppen versteckte, wenn ein Auto auf den Vorplatz fuhr. Warum Jimmy Barrett Häuser ohne Dächer malte und kein Huhn aß. Sie erfuhr, dass Alan Warchowski in einem kleinen blauen Buch eine Liste der Dinge führte, die er liebte, und in einem schwarzen diejenigen, die er hasste. Dass Jeffrey Green den Kopfstand machen und dabei eine Flasche Limonade trinken konnte. Dass Paul Hewitt in Sarah Morton verliebt war und Gedichte für sie schrieb, die er ihr nie zeigte.

Die Mädchen in Chestnut Hill verfolgten staunend und neidisch, wie sich Mrs. Krugshank plötzlich um die Jungen kümmerte. Wenn die in ihren Augen riesige und außerirdisch schöne Frau mit ein paar besonders mutigen Jungs im leeren Speisesaal Walzer übte, standen die Mädchen auf Schemeln hinter den Türen und beobachteten durch die Oberlichter das seltsame und wunderbare Treiben. Als Alice einer Gruppe von Jungen auf dem Vorplatz zeigte, dass sie das Hufeisenwerfen seit ihrer Kindheit nicht verlernt hatte, drückten sich die Mädchen an den Fensterscheiben die Nase platt. Alice war mit ihrer neuen Aufgabe so beschäftigt, dass sie die sehnsüchtigen, vorwurfsvollen und manchmal feindseligen Blicke der Mädchen nicht wahrnahm. Erst als eines Tages die fünfjährige Ruby Fletcher mit einem zerfledderten Stoffhasen im Arm in ihr Büro trat und fragte, ob Alice sie nicht leiden könne, wurde ihr klar, dass sie ihre Zuwendung ungerecht verteilt hatte.