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Plötzlich schwappt bleierne Müdigkeit durch meinen Körper, aber statt mich hinzusetzen, tappe ich weiter. Am Ende der Treppe betrete ich taumelnd ein Schiffsdeck. Mir ist kalt, das muss die Müdigkeit sein. Bunte Fische schwimmen vor meinen Augen. Ein einfältiges Lied, eine Girlande aus hohen Tönen, legt sich neben das dumpfe Pochen in meinem Kopf.

Mir ist heiß, ich zittere mit kalten Füßen. Der Boden hebt und senkt sich unter den Wellen. Ein Mann, leuchtend in seinem gelben Hemd, kommt auf mich zu. Sein Gesicht ist freundlich, und trotz seiner kräftigen Statur wirkt er nicht bedrohlich. Dass ich mittlerweile auf dem Boden sitze, merke ich erst, als ich zu dem Mann aufblicke. Er sagt etwas, aber ich verstehe ihn nicht. Die Augen fallen mir zu, die Musik und die Schmerzen verlassen meinen Kopf, meine Blase entleert sich.

The Verdict, 1982

Die Wellen schienen gegen die Mauern zu schlagen, aber es war nur der Wind, der in Böen Regen ans Haus warf. Wilbur lag in seinem Bett und sah ins Dunkel, wo Balken knarrten, wenn das Dach sich anzuheben schien unter dem Druck einer besonders mächtigen Luftwoge. Ein dickes Kissen begrub das Kind unter sich, dessen Kopf hervorschaute wie aus einer Schneewehe. Es war Nacht, und er hätte gerne die leuchtende Blume gesehen, die auf dem Lampenschirm neben der Tür blühte, aber sie lag nicht in seinem Blickfeld.

Als unweit des Hauses die von einem heftigen Windstoß aufgerissene Scheunentür gegen den Rahmen krachte, fing Wilbur an zu weinen. Wenn es draußen so laut toste, dass sein dünnes Stimmchen darin unterging, wartete er und schrie in der kurzen Pause, die der Sturm zum Atemholen brauchte. Nahm der Lärm erneut für einen Moment ab, schrie er nochmals, und meistens hörte er in der darauffolgenden Lücke die dunkle Stimme, die ihm Angst machte, und die helle, die er liebte. Dann weinte er wieder, aber nur, um augenblicklich damit aufzuhören, sobald sie die Tür öffnete, ihn unter der Decke hervorzog und in die Arme nahm. Nach einem letzten Schluchzer war er still und lauschte ihrer Stimme. Er schmiegte den Kopf an ihre Brust und gab sich mit geschlossenen Augen dem Schaukeln ihres Oberkörpers hin und dem Singsang, der flüsternd das wütende Toben des Sturms ausblendete.

Im Spätsommer des letzten Jahres hatte Eamon McDermott in Begleitung eines Anwalts seinen Enkelsohn aus Chestnut Hill geholt. Nach einem langen Papierkrieg mit den amerikanischen und irischen Behörden zu müde, um sich als Sieger zu fühlen, war er vor dem Heim aus einem Taxi gestiegen und auf Lawrence Krugshank zugegangen, abwartend, ob der Mann ihm die Hand entgegenstrecken würde. Krugshank musste für diesen Gruß alle Kraft, die ihm noch geblieben war, aufbringen, schüttelte Eamons Hand und die des Anwalts und führte die Männer durch einen leeren Flur zu dem Büro, wo die letzten Formalitäten erledigt wurden. Warren C. Rush und eine Mitarbeiterin des Sozialamtes warteten auf die beiden. Eamon sprach während der ganzen Prozedur kein Wort. Er nickte, wenn sein Anwalt ihm etwas erklärte, setzte seine Unterschrift dorthin, wo es verlangt wurde, und wollte dann so rasch wie möglich den Jungen holen.

Alice Krugshank brachte es nicht fertig, den Mann zu sehen, der ihnen ihr Kind wegnahm. Sie saß auf dem Bett im Schlafzimmer ihrer Wohnung, die in einer der ehemaligen Offiziersunterkünfte etwas abseits des Hauptgebäudes lag, knetete einen Wollfäustling, den sie für Wilbur gestrickt hatte, und starrte auf den Fleck an der Wand, an der eben eine halbvolle Kaffeetasse zerschellt war. Als sie den Motor des Taxis hörte, kippte sie seitlich auf das Bett, zog die Knie an und weinte.

So fand ihr Mann sie, als er zwei Stunden später den Raum betrat und Wilbur auf dem Weg zum Flughafen war.

Als Eamon in Sligo aus dem Zug stieg, der ihn und eine Handvoll Leute, vor allem amerikanische Touristen auf der Suche nach ihren Wurzeln, von Dublin in den Nordwesten gebracht hatte, fühlte er sich noch immer nicht als Sieger. Auch nicht, als er seine Frau sah, die die lange Fahrt mit dem Bus auf sich genommen hatte, um ihren Enkel willkommen zu heißen. Wilbur hatte im Taxi vor dem Heim angefangen zu weinen und, mit wenigen Unterbrechungen, in denen er rot verfärbt und schweißnass wegdämmerte, bis zu seiner Ankunft in Dublin nicht wieder aufgehört. Kaum auf irischem Boden gelandet, verstummte er jedoch, was Eamon als Zeichen deutete, dass der Junge spürte, wohin er gehörte.

Im Bus konnte Eamon den mit blauem Nylonstoff eingefassten Tragekorb, den Lawrence Krugshank ihm aufgedrängt hatte und in dem Wilbur lag, seiner Frau auf den Schoß stellen. Froh, die Reise endlich hinter sich zu haben, hielt er sich an seinem Koffer fest, in dem, eingewickelt in einen Pullover, die Urne mit Maureens Asche lag. Orla schälte den Jungen aus den Tüchern und Decken, prüfte den Zustand der Windeln, die eine Stewardess der Aer Lingus über Neufundland gewechselt hatte, herzte ihren neuen Schatz und ließ nicht von ihm ab, bis der Bus auf dem Dorfplatz von Kindrum hielt.

Was Wilbur von seiner neuen Welt sah, war umstellt von Mauern. Regnete es nicht und war es nicht zu kalt, wurde er auf eine Wolldecke in die Mitte der asphaltierten Fläche gesetzt, die man durch die Küchentür erreichte. Die Mauern waren unverputzt und hätten die Wände eines Anbaus sein können, dessen Errichtung man vertagt oder verworfen hatte. Zwei Holzstühle, ein Ascheimer und ein schwarzes Fahrrad standen in ihrem Schatten, in einer Ecke lagerte gestochener Torf unter einer Plane, Heizmaterial für den Winter. Auf dieser Decke hatte Wilbur gelernt, auf allen vieren zu kriechen und wie man auf zwei wackligen Beinen steht.

Auf dieser Decke saß er jetzt, hielt mit beiden Händen einen geschnitzten Holzesel fest, sah auf die Mauer, hinter der das Meer lag, und wartete auf sie. Er hörte, wie die Wellen an die Küste rollten, ein sanftes Rauschen, dazwischen riefen Möwen, die manchmal, vom Wind hergetragen, hoch über seinem Kopf auftauchten. In den ersten Wochen hatte Wilbur nach ihnen gegriffen, doch irgendwann die Vergeblichkeit seiner Bemühungen eingesehen und aufgehört. Stattdessen rieb er den Kopf des Holzesels auf dem Asphalt, bis Nüstern und Maul abgeschliffen waren.

Wenn sie endlich kam, warf er den Esel in die Luft, worauf sie jedes Mal jubelnd in die Hände klatschte. Dann hob sie ihn hoch und trug ihn in die Küche, wo sie ihn auf den Schoß nahm, ihm zu essen gab und scheinbar wahllos drauflos erzählte, Geschichten aus Büchern, Zeitungsmeldungen, Witze, Horoskope, Wetteraussichten, Nachbarstratsch, Hochzeiten, Geburten, nie Todesfälle. Sie redete ohne Punkt und Komma, die Worte kamen aus ihr heraus, als müsste sie den Jungen in möglichst kurzer Zeit mit möglichst vielen davon versorgen, als seien sie Bestandteil seiner Ernährung.

Orla McDermott war eine Frau, der man auch nach zweiundsechzig Jahren noch hätte ansehen können, dass sie einmal sehr schön gewesen war. Aber hier draußen, mehr als zwanzig Kilometer von Kindrum und einen Steinwurf vom Meer entfernt, gab es niemanden, der sich für den warmen Glanz in ihren schwarzen Augen oder die sinnliche Form ihrer Lippen interessiert hätte. Niemandem fielen ihre schmalen Hände auf, in deren Fingerspitzen Zärtlichkeit schlief, niemandem die hohen Wangenknochen, über die sich sonnenbraune, von unzähligen haarfeinen Fältchen geriffelte Haut spannte.

Früher blieben die Männer in Galway auf der Straße stehen, wenn sie an ihnen vorbeiging, mit federndem Schritt und einem Lächeln im Gesicht, das spöttisch war für die dreist Glotzenden und ermunternd für die verschämt Schmachtenden. Ihre Familie, deren Wurzeln mütterlicherseits in Spanien lagen, besaß zwei Fischkutter, die Alicante und die Galway Grace. Drei Männer, einen Onkel und zwei Cousins von Orla, hatte das Meer genommen im Tausch gegen einen Teil seines Schatzes, der die Schiffsbäuche mit zappelndem Silber füllte. Reich wurden die O’Learys mit dem Fischfang nicht, aber es reichte, um die älteste Tochter auf eine gute Schule in England zu schicken.