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Satin: Wenn du gehst, dann nimm doch den Schauspieler mit … Er will ja auch bald aufbrechen … er hat nämlich in Erfahrung gebracht, daß genau einen halben Kilometer vom Ende der Welt eine Heilanstalt für Organons existiert …

Der Schauspieler  streckt den Kopf über den Ofenrand vor: Für Organismen, Schafskopf!

Satin: Für Organons, die mit Alkohol vergiftet sind …

Der Schauspieler: Ja! Er wird aufbrechen! Sehr bald wird er aufbrechen … Ihr werdet sehen!

Der Baron: Wer ist dieser »er«, Sire?

Der Schauspieler: Ich bin's!

Der Baron: Merci, mein lieber Jünger der … äh, wie heißt sie doch? Die Göttin des Dramas, der Tragödie … wie hieß sie?

Der Schauspieler: Eine Muse war's, Schafskopf! Nicht Göttin, sondern Muse!

Satin: Lachesis … Hera … Aphrodite … Atropos … der Teufel soll sie alle unterscheiden! Ja … unser Musenjünger verläßt uns also … Den Floh hat ihm der Alte ins Ohr gesetzt …

Der Baron: Der Alte war ein Narr …

Der Schauspieler: Und ihr seid Wilde! Unwissende Knoten seid ihr! Wißt nicht mal, wer Melpomene ist. Ihr herzlosen Menschen! Ihr werdet sehen - er verläßt euch! »Prasset nur, ihr traurigen Gesellen« … wie es bei Béranger heißt … ja! Er wird den Ort schon finden … wo er nichts mehr … gar nichts mehr …

Der Baron: Wo es gar nichts mehr gibt, Sire?

Der Schauspieler: Ja! Gar nichts mehr! »Die Höhle hier … sie wird zum Grab mir werden … Ich sterbe, welk und kraftlos!« Und ihr … warum lebt ihr nur? Warum?

Der Baron: Hör mal, du - Kean oder Genie und Leidenschaft! Brülle nicht so!

Der Schauspieler: Halt's Maul! Gerade werde ich brüllen!

Nastja  hebt den Kopf vom Tisch hoch, fuchtelt mit den Armen in der Luft herum: Immer schrei zu! Mögen sie's hören!

Der Baron: Was hat das für 'nen Sinn, Lady?

Satin: Laß sie schwatzen, Baron! Hol sie der Teufel, alle beide … Mögen sie schreien … mögen sie sich die Schädel einrennen … immerzu! Einen Sinn hat's schon! … Stör die Leute nicht, wie der Alte sagt … Der Graukopf hat hier alles rebellisch gemacht …

Kleschtsch: Hat alle gelockt … irgendwohin … und wußte selber den Weg nicht …

Der Baron: Der Alte war ein Scharlatan …

Nastja: 's ist nicht wahr! Du bist selber ein Scharlatan!

Der Baron: Kusch dich, Lady!

Kleschtsch: Von der Wahrheit war er kein Freund, der Alte … Ist immer mächtig über die Wahrheit hergezogen … Schließlich hat er recht … Was nützt mir alle Wahrheit, wenn ich nichts zu beißen habe? Da, seht euch den Tataren an auf den Tataren weisend  … Hat sich die Hand zerquetscht bei der Arbeit … jetzt heißt es, sie muß ihm abgenommen werden … Da habt ihr die Wahrheit!

Satin  schlägt mit der Faust auf den Tisch: Still da! Ihr seid dummes Volk, alle miteinander. Redet bloß nicht von dem Alten! Ruhiger. Du, Baron, bist der Dümmste von allen … hat keinen blauen Schimmer - und schwatzt doch! Ein Scharlatan soll der Alte sein? Was heißt Wahrheit? Der Mensch ist die Wahrheit! Das hat er begriffen … ihr aber nicht! Ihr seid stumpfsinnig wie die Ziegelsteine. Ich versteh in ganz gut, den Alten … Er hat wohl geflunkert … aber es geschah aus Mitleid mit euch, weiß der Teufel! Es gibt viele solche Leute, die aus Mitleid mit dem Nächsten lügen … ich weiß es, hab darüber gelesen! Sie lügen so schön, so begeistert, so wundervoll! Es gibt so trostreiche, so versöhnende Lügen … Eine solche Lüge bringt es fertig, den klotz zu rechtfertigen, der die Hand des Arbeiters zermalmt … und den Verhungernden anzuklagen … Ich - kenne die Lüge! Wer ein schwaches Herz hat … oder wer sich von fremden Säften nährt - der bedarf der Lüge … Jenem flößt sie Courage ein, diesem leiht sie ein Mäntelchen … Wer aber sein eigner Herr ist … wer unabhängig ist und nicht vom schweiße des andern lebt - was braucht der die Lüge? Die Lüge ist die Religion der Knechte und der Herren … die Wahrheit ist die Gottheit des freien Menschen!

Der Baron: Bravo! Famos gesagt! Bin ganz deiner Meinung! Du sprichst … wie 'n anständiger Mensch!

Satin: Warum soll nicht ein Gauner mal so reden wie 'n anständiger Mensch - wenn die anständigen Leute so reden wie die Gauner? Ja … ich hab vieles vergessen, aber einiges hab ich doch noch behalten! Der Alte? Das war ein ganz gescheiter Kopf! Der hat auf mich gewirkt … wie Säure auf eine alte, schmutzige Münze … Na, prosit, er soll leben! Schenk ein … Nastja schenkt ein Glas Bier ein und reicht es Satin.

Satin  lächelnd: Der Alte - der lebt von innen heraus … er sieht alles mit seinen eigenen Augen an … Ich fragte … ihn einmaclass="underline" »Großvater, wozu leben eigentlich die Menschen?« … Sucht in Stimme und Bewegungen Luka nachzuahmen. »Die Menschen? Ei, die leben um des Tüchtigsten willen! Da leben zum Beispiel die Tischler, wollen wir annehmen - lauter elendes Volk … und mit einemmal wird aus ihrer Mitte ein Tischler geboren … solch ein Tischler wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat; allen ist er über, kein andrer Tischler ist ihm gleich. Dem ganzen Tischlerhandwerk gibt er ein neues Gesicht … sein eignes Gesicht sozusagen … und mit einem Stoß rückt die Tischlerei um zwanzig Jahre vorwärts … Und so leben auch alle andern … die Schlosser und die Schuhmacher und alle übrigen Arbeitsleute … auch die Bauern … und sogar die Herren - nur um des Tüchtigsten willen! Jeder denkt, er sei für sich selbst auf der Welt, und nun stellt sich's heraus, daß er für jenen da ist … für den Tüchtigsten! Hundert Jahre … oder vielleicht noch länger … leben sie so, für den Tüchtigsten!« Nastja blickt Satin starr ins Gesicht. Kleschtsch hört auf, an der Harmonika zu arbeiten, und hört gleichfalls zu. Der Baron läßt den Kopf sinken und trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Der Schauspieler streckt den Kopf über den Ofenrand vor und sucht vorsichtig auf die Pritsche herunterzuklettern.

Satin  fortfahrend: »Alle, mein Lieber, alle leben einzig um des Tüchtigsten willen! Darum sollen wir auch jeden Menschen respektieren … wissen wir doch nicht, wer er ist, wozu er geboren wurde, und was er noch vollbringen kann … Vielleicht wurde er uns zum Glück geboren … zu großem Nutzen … Ganz besonders aber müssen wir die Kinder respektieren … die kleinen Kinderchen ! Die Kinderchen müssen Freiheit habe … Laßt die Kinder sich ausleben … respektiert die Kinder!« Lacht still für sich. Pause.

Der Baron  nachdenklich: Für den Tüchtigsten … Hm ja … Das erinnert mich an meine eigne Familie … Eine alte Familie … noch aus den Zeiten Katharinas … vornehmer Adel … Militärs! … Wir sind aus Frankreich eingewandert … sind in russische Dienste getreten … sind immer höher gestiegen … Unter Nikolaus I. hat mein Großvater, Gustave Deville … einen hohen Posten bekleidet … er war reich … hatte Hunderte von Leibeigenen … Pferde … einen Koch …

Nastja: Lüg doch nicht! 's ist alles Schwindel!

Der Baron  springt auf: Wa-as? N-na … weiter!

Nastja: Alles Schwindel!

Der Baron  schreit: Ein Haus in Moskau! Ein Haus in Petersburg! Kutschen … Wappen am Kutschenschlag! Kleschtsch nimmt die Harmonika, erhebt sich und geht auf die Seite, von wo aus er die Szene beobachtet.

Nastja: Schwindel!

Der Baron: Kusch dich! Dutzende von Lakaien … sag ich dir!

Nastja  mit sichtlichem Behagen: Alles Schwindel!

Der Baron: Ich schlag dir den Schädel ein!

Nastja  macht Miene wegzulaufen: Kutschen? Ist Schwindel!

Satin: Hör auf, Nastenjka! Mach ihn nicht wütend …

Der Baron: Wart, du nichtsnutziges Ding! Mein Großvater …

Nastja: Es gab gar keinen Großvater! Gar nichts gab's! Satin lacht.