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»Kann es nicht vom Gemüt her gekommen sein?«

»Ich will es nicht verneinen. Weiß man denn nichts? Hat er vielleicht einen starken Schrecken gehabt? Eine Todesnachricht? Einen heftigen Streit, eine Beleidigung? Dann wäre alles erklärt.«

»Wir wissen es nicht. Traget Sorge, dass niemand zu ihm gelassen wird. Ich bitte Euch, bei ihm zu bleiben, bis er erwacht. Sollte es schlimm werden, so rufet mich, auch wenn es in der Nacht wäre.«

Vor dem Weggehen beugte der Greis sich nochmals über den Kranken; er dachte an dessen Vater und dachte an den Tag, an dem dieser hübsche heitere Blondkopf ihm zugebracht worden war, und wie sie alle ihn gleich gern gehabt hatten. Auch er hatte ihn gern gesehen. Aber darin hatte Narziss wirklich recht: in nichts erinnerte dieser Knabe an seinen Vater! Ach, wieviel Sorgen überall, wie unzulänglich war all unser Tun! Hatte er nicht vielleicht an diesem armen Knaben etwas versäumt? Hatte er den richtigen Beichtvater gehabt? War es in Ordnung, dass niemand im Hause über diesen Schüler so gut Bescheid wusste wie Narziss? Konnte denn der ihm helfen, der noch im Noviziat stand, der weder Bruder war noch die Weihen hatte und dessen Gedanken und Anschauungen alle etwas so unangenehm Überlegenes, ja fast Feindseliges hatten? Weiß Gott, ob nicht auch Narziss seit langem falsch behandelt worden war? Weiß Gott, ob er nicht hinter der Maske des Gehorsams Schlimmes verbarg, vielleicht ein Heide war? Und alles, was aus diesen beiden jungen Menschen einst werden würde, dafür war er mitverantwortlich.

Als Goldmund zu sich kam, war es dunkel. Er fühlte seinen Kopf leer und schwindlig. Er fühlte sich in einem Bett liegen, er wusste nicht, wo er war, er dachte auch nicht darüber nach, es war ihm gleichgültig. Aber wo war er gewesen? Wo kam er her, aus welcher Fremde von Erlebnissen? Er war irgendwo gewesen, sehr weit fort, er hatte etwas gesehen, etwas Außerordentliches, etwas Herrliches, etwas Furchtbares auch und Unvergessliches – und doch hatte er es vergessen. Wo war es? Was war da vor ihm aufgetaucht, so groß, so schmerzlich, so selig, und war wieder hingeschwunden?

Tief horchte er in sich hinein, dorthin, wo heute etwas aufgebrochen, etwas geschehen war – was war es gewesen? Wüste Bilderknäuel wälzten sich herauf, er sah Hundeköpfe, drei Hundeköpfe, und er roch den Duft von Rosen. O wie weh war ihm gewesen! Er schloss die Augen. O wie furchtbar weh war ihm gewesen! Er schlief wieder ein.

Wieder erwachte er, und eben noch im Entschwinden der eilig weggleitenden Traumwelt sah er es, fand das Bild wieder und zuckte wie in schmerzlicher Wollust zusammen. Er sah, er war sehend geworden. Er sah Sie. Er sah die Große, Strahlende, mit dem voll blühenden Munde, mit den leuchtenden Haaren. Er sah seine Mutter. Zugleich meinte er eine Stimme zu hören: »Du hast deine Kindheit vergessen.« Wessen Stimme war doch dies? Er horchte, er sann und fand. Es war Narziss. Narziss? Und in einem Augenblick, mit einem jähen Ruck war alles wieder da: er erinnerte sich, er war wissend. O Mutter, Mutter! Berge von Schutt, Meere von Vergessenheit waren weg, waren verschwunden; aus königlichen, hellblauen Augen blickte die Verlorene ihn wieder an, die unsäglich Geliebte.

Pater Anselm, der im Lehnstuhl neben dem Bett eingeschlummert war, erwachte. Er hörte den Kranken sich bewegen, hörte ihn atmen. Vorsichtig erhob er sich.

»Ist jemand da?« fragte Goldmund.

»Ich bin es, sei ohne Sorge. Ich mache Licht.«

Er brachte die Ampel zum Brennen, der Schein fiel über sein faltiges wohlwollendes Gesicht.

»Bin ich denn krank?« fragte der Jüngling.

»Du bist ohnmächtig gewesen, mein Söhnchen. Gib mir die Hand, wir wollen nach dem Puls sehen. Wie fühlst du dich?«

»Gut. Ich danke Euch, Pater Anselm, Ihr seid sehr gütig. Es fehlt mir nichts mehr, ich bin nur müde.«

»Natürlich bist du müde. Bald wirst du wieder schlafen. Nimm vorher einen Schluck heißen Wein, er steht bereit. Wir wollen einen Becher miteinander leeren, mein Junge, auf gute Kameradschaft.«

Sorglich hatte er ein Krüglein Glühwein bereitgehalten und in ein Gefäß mit heißem Wasser gestellt.

»Da haben wir also beide eine ganze Weile geschlafen«, lachte der Arzt. »Ein feiner Krankenwärter, wirst du denken, der sich nicht munter halten kann. Na ja, wir sind Menschen. Jetzt trinken wir ein wenig von diesem Zaubertrank, mein Kleiner, nichts Hübscheres als so eine kleine heimliche Zecherei in der Nacht. Also Prosit!«

Goldmund lachte, stieß an und kostete. Der warme Wein war mit Zimmet und Nelken gewürzt und mit Zucker gesüßt, das hatte er noch nie getrunken. Es fiel ihm ein, dass er schon einmal krank gewesen sei, da hatte Narziss sich seiner angenommen. Diesmal war es Pater Anselm, der lieb mit ihm war. Es gefiel ihm sehr, es war höchst angenehm und wunderlich, beim Lämpchenschein dazuliegen und mitten in der Nacht mit dem alten Pater einen Becher süßen warmen Wein zu trinken.

»Hast du Bauchweh?« fragte der Alte.

»Nein.«

»Ja, ich dachte, du müsstest Kolik haben, Goldmund. Also damit ist es nichts. Zeig deine Zunge. Na, es ist gut, euer alter Anselm hat wieder einmal nichts gewusst. Du bleibst morgen hübsch liegen, ich komme dann und untersuche dich. Und mit dem Wein bist du schon fertig? Recht so, es möge dir wohl bekommen. Lass mich sehen, ob noch etwas da ist. Zu einem halben Becher für jeden von uns reicht es noch, wenn wir redlich teilen. – Du hast uns schön erschreckt, Goldmund! Liegst da im Kreuzgang wie eine Kinderleiche. Hast du wirklich kein Bauchweh?«

Sie lachten und teilten redlich den Rest des Krankenweins, der Pater machte seine Späße, und Goldmund blickte ihn dankbar und belustigt aus den wieder hell gewordenen Augen an. Dann ging der Alte fort, um sich zu Bett zu legen.

Goldmund lag noch eine Weile wach, langsam traten die Bilder wieder aus seinem Innern hervor, flammten die Worte seines Freundes wieder auf, und nochmals erschien in seiner Seele die blonde strahlende Frau, die Mutter; wie Föhnwind ging ihr Bild durch ihn hin, wie eine Wolke von Leben, von Wärme, von Zärtlichkeit und inniger Mahnung. O Mutter! O wie war es möglich gewesen, dass er sie hatte vergessen können!

Fünftes Kapitel

Bisher hatte Goldmund von seiner Mutter wohl einiges gewusst, aber nur aus den Erzählungen anderer; ihr Bild hatte er nicht mehr besessen, und von dem wenigen, was er über sie zu wissen glaubte, hatte er Narziss das meiste verschwiegen. Die Mutter war etwas, wovon man nicht sprechen durfte, man schämte sich ihrer. Eine Tänzerin war sie gewesen, ein schönes wildes Weib von vornehmer, aber unguter und heidnischer Herkunft; Goldmunds Vater hatte sie, so erzählte er, aus Armut und Schande aufgelesen; er hatte sie, da er nicht wusste, ob sie nicht Heidin sei, taufen und in der Religion unterweisen lassen; er hatte sie geheiratet und zu einer angesehenen Frau gemacht. Sie aber, nach einigen Jahren der Zahmheit und des geordneten Lebens, hatte sich ihrer alten Künste und Übungen wieder erinnert, hatte Ärgernis erregt und Männer verführt, war Tage und Wochen von zu Hause weggeblieben, war in den Ruf einer Hexe gekommen und schließlich, nachdem ihr Mann sie mehrmals wieder eingeholt und zu sich genommen hatte, für immer verschwunden. Ihr Ruf war noch eine Weile vernehmbar geblieben, ein böser Ruf, flackernd wie ein Kometenschweif, und war dann erloschen. Ihr Mann erholte sich langsam von den Jahren der Unruhe, des Schreckens, der Schande und der ewigen Überraschungen, die sie ihm bereitet hatte; an Stelle des missratenen Weibes erzog er nun sein Söhnlein, das der Mutter an Gestalt und Gesicht sehr ähnlich war; der Mann war vergrämt und frömmlerisch geworden und züchtete in Goldmund den Glauben, er müsse sein Leben Gott darbringen, um die Sünden der Mutter zu sühnen.

Dies etwa war es, was Goldmunds Vater über sein verlorengegangenes Weib zu erzählen pflegte, obwohl er nicht gerne darauf zu sprechen kam, und Andeutungen davon hatte er bei Goldmunds Einlieferung auch dem Abte gemacht; und dies alles war, als schreckliche Sage, auch dem Sohne bekannt, obwohl er gelernt hatte, es beiseite zu schieben und beinahe zu vergessen. Ganz und gar vergessen und verloren aber hatte er das wirkliche Bild der Mutter, jenes andere, ganz andere Bild, das nicht aus den Erzählungen des Vaters und der Dienstboten und aus dunklen wilden Gerüchten bestand. Seine eigene, wirkliche, erlebte Erinnerung an die Mutter hatte er vergessen. Und nun war dieses Bild, der Stern seiner frühesten Jahre, wieder aufgestiegen.