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»All die Mauern und die Zäune

waren mein Tagebuch.

Mit Kreide vollgeschmiert,

mit Herzen und mit Pfeilen.

Ich war gerade zehn.

Die Herzen sind verlöscht,

die Pfeile blieben stehn.«

Seit vielen Jahren gingen ihr Text und Melodie im Kopf herum, Andre Heller hatte das gesungen, und in Andre Heller und seine melancholische Eleganz war sie immer ein bisschen verliebt gewesen.

»Woran denkst du?«, fragte Clara, und Isolde sagte: »An Mauern mit Pfeilen«, und Clara verstand nicht und dachte, dass Isolde jetzt, wo sie hier lebte, aber endlich mal richtig gut Italienisch lernen müsse.

Danilo schloss noch Computer und Stereoanlage an, Romeo bekam den letzten Rest deutscher Fleischwurst, dann verabschiedeten sich die beiden, und Isolde saß da unter ihrem roten Glaslüster und beschloss, Robert zu fragen, ob er so einen noch mal auftreiben könnte, er kam öfter nach Berlin, und sie hatte einfach keine Lust, zwölf Kuchengabeln zu schenken.

In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen. Vielleicht war sie einfach nicht müde genug, vielleicht ging ihr zu viel durch den Kopf, vielleicht fehlte aber auch nur eine schnurrende Katze am Fußende des Bettes. Isolde lag wach und dachte an die vielen Wendungen, die ihr Leben genommen hatte und die man immer erst hinterher bemerkte. Man merkte es nicht, wann genau eine Liebe zu Ende ging, man sah es erst hinterher, von Weitem sozusagen. Man merkte auch nur in der Bückschau, dass man glücklich gewesen war. Und das Glück huschte vorbei, hinterließ nur einen warmen Schein, während das Unglück immer mit umzog und wie ein kleines krankes Tier in der dunkelsten Ecke des Hauses lag und leise weinte, manchmal.

Der Mond schien in ihr Schlafzimmer, und Isolde hatte das Gefühl, genau in der Mitte zwischen glücklich und unglücklich, zwischen fröhlich und traurig zu sein, schwebend, nicht leicht und nicht schwer, wie gar nicht wirklich da. Es war im Grunde kein schlechtes Gefühl, und so schlief sie schließlich doch ein und wurde durch ein Klopfen an der Tür geweckt, da war es schon wieder zehn Uhr.

Die Nachbarin stand draußen, Mariagrazia, die freundliche Nachbarin mit den fünf Kindern, und sie brachte ihr ein paar frische Eier und ein Bund Petersilie, umarmte sie und hieß sie willkommen.

Isolde versicherte ihr, dass sie auch heute zu ihr rüberkommen wollte, aber Mariagrazia winkte ab: »Tun Sie das nicht, Signora, drei Kinder sind krank, Sie stecken sich nur an ...« Und da sei ein Lastwagen gewesen gestern, ob sie denn nun länger bliebe? Vielleicht für immer?

»Ich weiß es noch nicht so genau«, sagte Isolde, aber länger auf jeden Fall, und Mariagrazia sagte, schon im Gehen:

»II Nerone! Ich glaube, ich habe Ihren Nero gesehen, vor drei Wochen. Ich hatte große Laken auf die Wiese gelegt zum Bleichen, es ist einfach jemand quer drübergelaufen, bestimmt er, mafioso come sempre, der!«

Sie lachten beide, und Isoldes Herz schlug schneller. Er war also da, er lebte noch, er war sogar immer in der Nähe geblieben, vielleicht ...? Aber sie verbot es sich zu hoffen. Hoffen ist ganz schlimm, es macht krank, die Hoffnung, dachte sie, wird total überschätzt, sie frisst unsere Energien weg, sie bringt uns um, nein, ich hoffe auf gar nichts, ich lebe von Tag zu Tag, und was kommt, kommt, und was nicht kommt, kommt nicht.

Und wer kommt, kommt, und wer nicht kommt, kommt nicht, das dachte sie auch noch.

Aus den Eiern von Mariagrazias Hühnern machte sie sich ein schönes Omelett und dachte an Camilla, das alte Huhn, das damals auf dem Hof nebenan gelebt und sich so sehr mit Nero angelegt hatte. Sie beschloss, am Abend die Bilderbücher für die Kinder hinüberzutragen, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte. Sie erinnerte sich daran, wie Nero den Nachbarshühnern die Eier unter dem Hintern weggeklaut hatte. Was für ein Kerl der gewesen war! Wie alt musste er jetzt sein? Daran wollte sie gar nicht denken. Sehr alt jedenfalls für einen Kater, und für einen Kater in Italien sowieso.

Isolde nahm sich vor, immer ein Schälchen mit Futter in den Garten zu stellen. Es gab viele hungrige und herrenlose Katzen hier, vielleicht würde eine bei ihr bleiben, und wenn nicht — es konnte nie schaden, auch die wilden ein bisschen zu verwöhnen, die Bauern warfen ihnen allenfalls ein paar Abfälle hin.

Sie machte sich das Haus nach und nach gemütlich, hängte Bilder auf, wusch die Vorhänge, klappte das Klavier auf und spielte zum ersten Mal hier, das Klavier war ein bisschen verstimmt. Sie würde sich jemanden suchen müssen, der sich damit auskannte. Abends hörte sie Musik und las, schaute ins Feuer, atmete tief durch und fühlte sich gut.

Tagsüber brachte sie den Garten in Ordnung, stapelte Beisig und kleines Holz hinterm Haus auf für den Kamin, größeres Brennholz kaufte sie im Supermarkt, aber man roch schon, dass es bald Frühling werden würde, es war von Tag zu Tag ein bisschen wärmer. Hinter dem kleinen Schuppen entdeckte sie eine warme, weiche Kuhle im Gras, unter dem Dach, voller schwarzer Katzenhaare. Hier hatte ganz offensichtlich jemand öfter geschlafen. Jemand?

Sie kochte sich jeden Tag etwas, und von dem, was übrig blieb und nicht zu scharf gewürzt war, stellte sie immer ein Schälchen für die Katzen draußen hin, und immer wurde alles ratzeputz leer gefressen, aber nie sah sie eine Katze. Doch.

Eines Sonntagmorgens, sie saß beim Frühstück, da schaute sie aus dem Fenster und sah eine kleine, magere Katze an das Tellerchen schleichen. Sie war grau, ein bisschen getigert, und sie streunte zu ihrem Haus, um ein wenig zu fressen. Vielleicht ließ sie sich locken, anfassen ...

Isolde öffnete ganz vorsichtig die Tür zum Garten, rief ... aber da, husch, war die kleine Graue auch schon weg, schnell wie der Blitz, scheu, und sie blieb lange weg, ehe sie wieder ganz vorsichtig mit vorgerecktem Hälschen hungrig angeschlichen kam. Isolde saß drinnen am Fenster, rührte sich nicht und beobachtete, wie sie den ganzen Teller leer putzte, immer in Lauerstellung, mit unruhigem Schwanz und suchendem Blick, und als alles sauber geleckt war, lief sie sofort durchs Unterholz davon. Isolde füllte das Tellerchen gleich nach und hoffte, sie käme noch mal, aber es dauerte fünf Tage, bis sich die kleine Graue wieder sehen ließ.

Isolde hatte die Tür zur Terrasse offen gelassen. Die Katze zögerte lange, kam dann doch und fraß. Na bitte, schon ein Schrittchen näher, und beim dritten Mal durfte Isolde schon in der Nähe sitzen und ihr zusehen. Aber immer wenn sie sich erhob oder eine Hand ausstrecken und locken wollte — hui, war die kleine Graue weg, und Isolde taufte sie Elsa, nach der schönen Arie »Elsa, nie sollst du mich befragen«, Elsa aus der Oper Lohengrin. Es war zwar Lohengrin, den man nicht befragen sollte, aber dies war nun mal eindeutig kein Lohengrin, sondern eine Elsa.

Elsa kam jetzt öfter, wurde furchtloser, sogar sichtbar ein bisschen runder, blieb aber scheu, ließ sich nicht berühren und kam nie ins Haus. Sie hatte vielleicht schon schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht. Aber sie kam, das war doch schon mal ein Anfang.

Robert schickte in einer riesigen Kiste liebevoll und sorgfältig verpackt einen zweiten roten Glaslüster aus Berlin — wie würde Clara sich freuen! Doch wohl mehr als über einen Dampfkochtopf, hoffte Isolde und kaufte sich in Como einen tollen Hut mit lila Rosen und eine Samtstola für die näher rückende Hochzeit.

Einmal saß Danilo abends bei ihr und betrank sich und gestand ihr, Angst vor dieser Ehe und diesem ganzen Brimborium zu haben. Er liebte Clara, ja, aber sie kommandierte ihn immer nur herum, und er machte ihr nichts richtig, und sie hatte so unermesslich viele Wünsche und so abenteuerliche Vorstellungen vom Eheleben — er wollte es eigentlich nur ruhig und nett haben, aber sie dachte, sie würde dann mindestens Kaiserin von Italien oder so was ...