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Ihr Enrico Türmer

Dienstag, 10. 7. 1990

Lieber Jo!

Die Schiedsrichterklause war unser Stadion. Wir haben bis in den Morgen gefeiert. Mutter und der Erbprinz hielten immerhin bis Mitternacht durch. Auch sie wollten keinen Augenblick von diesem Sonntag verschenken. Alle waren da, nur der Baron fehlte. Der saß mit Jörg zusammen. Über das Ergebnis weiß ich nichts. Ich will es auch gar nicht wissen. Mir war es schon unangenehm, daß gestern Fred und Ilona bei uns vorsprachen. Wir brauchen vorerst niemanden mehr. Für sie ist es bitter, denn auch keinem in der Familie372 könnte ich sie reinen Herzens empfehlen, dafür kenne ich sie zu gut.

Am Sonntag ist Franziska und Dir wirklich etwas entgangen. Ein solches Spektakel werden wir so schnell nicht wieder erleben. Außerdem hätte mich Euer Eindruck interessiert, nicht zuletzt die Sicht eines Theologen373. Es war schon eine merkwürdige, seltsam enthobene Veranstaltung.

Nach dem Frühstück in unserem Obstgarten lud uns der Baron in den kleinen Bus. Außer ihm hatte wohl niemand eine Ahnung, was uns erwartete. Michaela war zu ihm in die Fahrerkabine gestiegen. Hinten saßen der Erbprinz, Robert, Mutter, Vera, Astrid und ich, jeder auf einem eigenen Sessel, bezogen mit dem gleichen samtartigen Stoff, mit dem der ganze Wagen ausgekleidet war. Der Fernseher an der Stirnseite flackerte — auf dem Bildschirm erschienen der Baron und Michaela. Sie winkten uns zu, dann verlosch das Bild wieder. Irgendwoher kam Musik, Mozart wahrscheinlich — wir fuhren bereits. Der Wagen duftete neu und fremd, die Scheiben dämpften das Licht, der kühle Luftzug aus der Klimaanlage war angenehm. Wir konnten die Leute sehen, die stehenblieben und uns anstarrten. Doch ihrerseits, das wußte ich, konnten sie nur ihr Spiegelbild in den schwarzen Scheiben erkennen. Wir brausten aus der Stadt hinaus Richtung Schmölln, vorbei an der eingerüsteten Villa des Barons, wo sich die Arbeiter wie Ameisen tummelten. Kaum lagen die letzten Häuser hinter uns, fiel ich in eine Art Halbschlaf. Aber mir entging nichts. Ein jegliches, Baum und Feld, Ähre und Blatt, offenbarten sich in schmerzlicher Klarheit. Selbst die Gesichter der Menschen, die auf den Feldern arbeiteten oder an einer Bushaltestelle warteten, schienen zu leuchten, wenn sie aufsahen und uns zuwinkten.

In Großstöbnitz bogen wir von der Hauptstraße ab. Wir wurden schneller. Häuser, Gärten und Felder flogen vorbei, es ging bergauf, der steile Anstieg wollte kein Ende nehmen. Ich schloß die Augen wieder — und versank in einer anderen Welt, einer Welt aus Klängen und Melodien. Ich verlor mich in dieser Musik, von der ich nicht wußte, ob sie in mir war oder von außen zu mir drang. Mir war, als tauschte ich meine menschliche Existenz gegen eine andere Daseinsweise aus, und ich hatte zum ersten Mal die Ahnung einer erlösten Welt inmitten der unseren. Ja, lach nur, aber das sind Träume, die, sobald sie unser Bewußtsein berühren, zerplatzen wie Tiefseefische, die man zum Auftauchen zwingt.

Als sich die Tür öffnete, spürte ich, daß die äußere Temperatur mit jener im Wagen exakt übereinstimmte.

In einem Tonfall, als hätten wir seit der Abreise eine ununterbrochene Unterhaltung geführt, erklärte der Baron, was uns nun bevorstehe, richtiges, um nicht zu sagen: reales Theater nämlich. Er lachte, verkündete jedoch im nächsten Moment in der Manier eines Zeremonienmeisters: Ein Schauspiel aus Anlaß der Rückkehr des Handreliquiars des heiligen Bonifatius, des Apostels der Deutschen, nach Altenburg und zu Ehren des Besuchs des Erbprinzen in seiner Heimatstadt.

Ich schob den Rollstuhl heran, und Massimo, der uns mit den anderen gefolgt war, hob den Erbprinzen hinein. Vera legte dem Erbprinzen die Decke über die Beine, Mutter reichte ihm ein Fernglas, und Robert spannte einen Schirm auf, damit die Sonne den Erbprinzen nicht blendete. Astrid wich dem Rollstuhl nicht von der Seite, von der rechten wohlbemerkt, um ihn immer im Auge zu haben.

Und schon nahten Landrat und Bürgermeister. Diese» ersten frei Gewählten «bildeten mit ihrem Gefolge ein Spalier zu beiden Seiten des holprigen Weges, auf dem Massimo den Rollstuhl den Berg hinanschob, dessen Kuppe von einer Kapelle gekrönt wurde. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren.

Vor der Kapelle hatte man ein weißes Zelt errichtet. Vielleicht sollte ich es besser einen Baldachin nennen, denn außer den vier Eckstreben, an denen der Stoff nach unten spitz zulief, gab es nur ein Dach und keine Wände. Die Sonne stand im Zenit, die Sicht war überwältigend, ein regelrechter Schock. Der Feldherrenhügel, wie der Baron den unbekannten Berg nannte, erlaubte in nördlicher Richtung eine Aussicht über Altenburg und die Braunkohlensteppe hinweg bis zum Völkerschlachtdenkmal von Leipzig, südlich breiteten sich Vogtland und Erzgebirge aus. Die Pyramiden von Ronneburg lagen greifbar nah im Westen, dahinter der Thüringer Wald, und nach Osten bot sich dem Blick die lieblichste Hügellandschaft.

«Denn die trockenen Gefilde waren noch nicht vom himmlischen Tau erfrischt!«verkündete eine Stentorstimme. Links von uns, keine fünfzig Meter hangabwärts, warteten einige hundert seltsam gekleidete Menschen. Aufgeteilt in zwei gleich große Haufen, richteten sich ihre Blicke auf einen Mann mit breitkrempigem Hut. Sein langes Gewand raffend, stieg er von einem Sandhaufen, den ein Schild als» Friesland «auswies, herunter und erklomm einen anderen, auf den man ein mit» England «beschriftetes Schild gepflanzt hatte. Simpelstes Laientheater! Wir waren das Publikum.

Mit Hilfe einer handbetriebenen Winde wurde ein Baum aufgerichtet.

Der Erbprinz bat darum, so nah wie möglich an den Abhang geschoben zu werden. Als der Baum stand und von einigen Männern mit Seilen im Gleichgewicht gehalten wurde, trat ein Mann vor die Spielschar und rief:»Die Donareiche!«Im selben Moment erschien ein Schild über den Köpfen, das mit» Geismar/Hessen «neuerlich den Ort des Geschehens angab. Hastig trat nun der Mann mit dem Hut hervor — es war Mansfeld, der Pastor —, gefolgt von drei Begleitern, die ihre nervöse Gestik offenbar Bodyguards abgeschaut hatten. Als er die Axt unter seinem Gewand hervorholte und emporhielt, erhoben sich Jammern und Wehklagen. Die Bemühung war dilettantisch, die Wirkung enorm.374

Der Baron zeigte auf den Mann mit Hut.»Das ist Bonifatius«, erklärte er überflüssigerweise und lächelte Robert zu. Bonifatius war auf die Knie gesunken, seine Stirn berührte im Gebet den Axtstiel, den er mit beiden Händen festhielt. Als er sich nun erhob, stiegen Schreie aus dem allgemeinen Wehe-Wehe auf, die so verzweifelt, so gellend waren, daß ich eine Gänsehaut bekam.

Schritt um Schritt wich die Menge vor dem Bonifatius mit der Axt zurück. Was ich für grandios gespielte Nervosität hielt, erwies sich Sekunden später als eine tatsächliche Befürchtung der Akteure. Denn als Bonifatius die Axt in den Baum schlug — es herrschte absolute Stille —, zerbarst der Stamm in vier Teile, die gleichzeitig, von Seilen gezogen, zu Boden fielen. Das wilde Geschrei des germanischen Heidenvolkes galt nicht so sehr dem Spielablauf als vielmehr der Angst um ihren hangaufwärts postierten Mitspieler, den ein Viertel des Baums knapp verfehlt hatte. Doch da ihm offenkundig nichts passiert war und er wie alle anderen niederkniete und zu dem Kreuz aufsah, das Bonifatius nun anstelle der Axt in Händen hielt, wollte auch von uns niemand etwas Bedenkliches darin sehen.

Außerdem setzte ein Choral ein. Ich könnte schwören, auch ein Orchester gehört zu haben. Mehr und mehr Heiden sanken auf die Knie und erhoben flehend die Hände zu ihrem neuen Gott.

Noch bevor der Gesang völlig verklungen war, verkündete der Erzähler mit seinem gewaltigen Baß den Baubeginn der Kirche.

Das war der Startschuß zu einem Wettrennen. Vier Mannschaften hoben die vier im Kreuz liegenden Stämme auf und stürmten bergan, als ginge es gegen ein Stadttor. Ihr Ziel konnte nur die Kapelle hinter uns sein, die frisch gestrichen, doch nicht neu verputzt worden war. Im Gras und auf den Steinen hatten die Maler deutliche Spuren hinterlassen.