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Ohne uns eines Blickes zu würdigen, keuchten die bekehrten germanischen Männer, Frauen und Kinder vorüber. Aus der Nähe betrachtet, wirkten sie filmreif präpariert, das wilde Haar, die zerschundenen Arme, die bis weit über die Knöchel schlammverkrusteten Füße und Beine. Wir durften dankbar sein, von diesem Haufen in seinem Spielwahn nicht überrannt zu werden. Sie machten sich an der Kapelle zu schaffen, indem sie die Stämme an vorbereiteten Schellen neben dem Eingang und an der Apsis befestigten.

Die Sonne stand sengend am Himmel, bei uns blieb es angenehm kühl. Der Erbprinz, der dem Geschehen gespannt gefolgt war, wehrte Fragen nach seinem Wohlbefinden lächelnd ab.

Inzwischen waren die Darsteller wieder auf ihre vorherigen Positionen zurückgekehrt. Geschah es, um die Dramatik zu steigern oder die Bedeutung des Ereignisses zu unterstreichen, jedenfalls rückte man näher an uns heran, und eine Frau, die das Schild» Dokkum — Pfingstfest 754«über der Schulter trug, nahm keine zehn Meter von uns entfernt Aufstellung.

Als sich Bonifatius ihr mit einigen seiner Getreuen genähert hatte — er lief jetzt langsamer und seinem Alter entsprechend tief gebeugt —, wurde ihm ein großes Buch überreicht, was ihn fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Seine drei Getreuen stützten ihn liebevoll und sahen flehentlich zu dem Erzähler hinüber, der daraufhin verkündete:»Sie warten auf die Frischgetauften!«

Der Haufen hatte sich geteilt. Rechter Hand, hier standen mehrheitlich Frauen, erklang ein heller Lobpreis des Herrn, von der linken Seite war ein Rhabarber-Rhabarber-Gemurmel zu hören, das die Bezeichnung» Barbaren «klanglich nahelegen sollte. Bonifatius, uns seitlich zugewandt, richtete sich bereits erwartungsvoll auf und schien den Frauen entgegenkommen zu wollen, als von hinten fürchterlich zottige Gestalten heranstürmten und mit wenigen Hieben die Begleiter des Apostels niedermachten. Aus Lobgesang wurde Wehklage.

Alle Aufmerksamkeit galt nun dem sich zu voller Größe aufrichtenden Bonifatius. Der hielt den Angreifern, die vor seiner Erscheinung zunächst zurückgewichen waren, das große Buch entgegen. Dann aber trat der wüsteste der wüsten Gesellen hervor — ein Schwert durchfuhr das Buch und drang dem Heiligen mitten ins Herz. In der atemlosen Stille, die dem folgte, hörte ich nur den Wind im Gras und Astrids Winseln. Wir alle waren mit den Akteuren erstarrt. Ein paar weiße Haarsträhnen des Erbprinzen tanzten auf und ab.

Bonifatius wankte, hielt sich aber noch aufrecht. Langsam sank er dann auf die Knie, seine Augen hoben sich gen Himmel. Schließlich fiel sein Oberkörper nach vorn und begrub das durchstochene Buch, das ihn nicht hatte retten können, unter sich. Ein höchst dissonantes Wehgeschrei brach aus, in das die Barbarendarsteller, wieder in christliches Volk zurückverwandelt, einstimmten.

Mansfeld, der Pfarrer, gut erkennbar an dem breitkrempigen Hut, hielt plötzlich das silberne, mit Edelsteinen besetzte Handreliquiar empor. War es Zufall oder Berechnung — im Sonnenlicht schien es zu erglühen und blendete uns so stark, daß auch ich die Hand vor die Augen nahm und mich abwandte. Da sah ich, daß fast alle, die mit uns das Schauspiel verfolgt hatten, niedergekniet waren. Die wenigen, die noch standen, waren zumeist ältere Leute. Astrid sprang schwanzwedelnd zwischen den Gläubigen hin und her, wohl in der Hoffnung, man wolle mit ihr spielen.

«Spielen Sie mit«, zischte mir der Baron von unten zu. Nach einigem Zögern gab ich nach und kniete mich hin, was ich dann allerdings als überraschend entspannend und angenehm empfand.

Singend hatte sich die Menge zu einem Zug formiert, dem das Handreliquiar feierlich vorangetragen wurde. Immer wieder brachen sich die Sonnenstrahlen auf ihm und sandten uns noch Signale, als der Gesang schon nicht mehr zu hören war und wir uns ganz der Stille und dem Anblick der hinab ins Land ziehenden Prozession überließen. Das Buch, darüber war nun Zeit genug nachzudenken, hatte Bonifatius nicht das Leben retten können, aber am Ende stand es doch im Zeichen eines Sieges.375

Nun wird wohl alles gut werden. Wir erwarten Euch!

Seid umarmt

von

Eurem Enrico

Mittwoch, 11. 7. 90

Liebe Nicoletta!

Wie Sie sehen, habe ich eine neue Adresse und bewohne nun vier Zimmer, dessen kleinstes größer ist als mein bisheriges Wohnzimmer. Kämen Sie in den nächsten Tagen oder Wochen, so fänden Sie mich auf der frisch begrünten Veranda, von der ich einen traumhaften Blick auf Stadt und Schloß habe. Sie sähen Altenburg und glaubten doch nicht, daß es Altenburg ist. Zum Haus gehört ein großer Obstgarten, umrankt von einer Dornröschenhecke.

Soviel zur Gegenwart. An deren Beginn hoffe ich Sie mit dem heutigen Kapitel führen zu können.

Leider gab es noch keine Gelegenheit, Ihnen von Tante Trockel, Roberts Kinderfrau, zu erzählen.376 Jährlich veranstaltete sie ein» Neujahrsessen «für uns. Manchmal spielte sie uns dann auch auf dem Klavier vor.

Nachdem mir Michaela versprochen hatte, nicht lange zu bleiben, tat ich ihr den Gefallen und begleitete sie zu Tante Trockel, Robert war zum Geburtstag seines Freundes Falk eingeladen.

Als wir aus dem Bus stiegen, sahen wir noch, wie Tante Trockel hinter der Balkontür verschwand. Michaela beschleunigte ihre Schritte, der übliche Wettlauf begann. Im selben Moment, da Tante Trockel die Haustür öffnete, drückte Michaela auf den Klingelknopf.

Mir fiel es schwer, das Lächeln in Tante Trockels verrunzeltem Gesicht zu erkennen. In den letzten Monaten war sie regelrecht schrumplig geworden, ihr Bauch jedoch, der sich unter dem enganliegenden Kleid wölbte, täuschte nach Form und Größe eine fortgeschrittene Schwangerschaft vor, ein Eindruck, den ihre ansonsten mädchenhafte Figur zusätzlich beförderte. Als ich hinter Tante Trockel die Treppe hinaufstieg, konnte ich erneut ihre schlanken Waden bewundern.

Tante Trockel reichte uns Kleiderbügel, faltete ihre Hände vor dem Bauch zusammen und sagte, als wäre sie uns eine Erklärung schuldig, sie habe zuviel Schokolade gegessen und das sei nun das Ergebnis. Von dem bayrischen Begrüßungsgeld sei so gut wie alles für Schokolade draufgegangen. Nicht, daß sie nichts mehr hätte, aber wann immer ihre Nachbarn nach Hof fuhren, kauften sie in ihrem Auftrag bei Aldi zwanzig Tafeln, und sie erstatte ihnen gegen Vorlage des Kassenbons den Betrag. Habe sie die Tafeln einmal im Schrank, könne sie an nichts anderes mehr denken. Tante Trockels Stimme war unerträglich hoch geworden. Mich beunruhigte die Vehemenz ihres Redeschwalls.

Sie schaffe es einfach nicht, fuhr Tante Trockel fort, die Tafel erst am Abend zu öffnen. Im Gegenteil, sie verbrauche alle Kraft dafür, sich einen oder zwei Riegel bis zur Tagesschau aufzusparen. Gestern sei ihr das nicht gelungen, und so habe sie zwei Tafeln an einem Tag verspeist, von Überdruß könne jedenfalls keine Rede sein.

Sie trug die Vorspeise auf, Fenchel mit Mandelsplittern und Apfelsine, dazu der Aperitif in winzigen Gläsern, der Rand mit Zuckerkruste bekränzt.

Wie immer hatte sich Tante Trockel bei der Vorbereitung dieses Essens bis an die Grenze ihrer Kräfte verausgabt. Sie selbst nippte hin und wieder am Wasserglas und redete auch weiter, während sie in der Küche hantierte. Nur als sie den Rehrücken auf einer schweren Platte präsentierte, hielt sie inne, um uns Gelegenheit zu geben, ihrer Kunst zu huldigen.

Danach — mein Teller war gerade zum zweiten Mal gefüllt worden — erzählte Tante Trockel, wie eine Klassenkameradin sie einst am Stanniolpapier habe riechen lassen, um ihr eine Ahnung davon zu geben, was Schokolade sei. Und sie, die Achtjährige, sei ihr dafür dankbar gewesen.»Stell dir das mal vor!«rief Tante Trockel und sah mich an. Sie wurde immer lauter und erzählte es so, als ginge das nur mich etwas an. Ich versuchte ihren Blick, sooft es ging, zu erwidern, wurde unsicher, als hätte ich etwas überhört, was ihre ausschließliche Ansprache begründete, und aß immer hastiger. Dann erst bemerkte ich, daß Michaela sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte. Tante Trockel saß steif auf der Sesselkante.