Выбрать главу

In den letzten Wochen hatte ich dem Wetter keinerlei Beachtung geschenkt, jetzt aber freute ich mich wie ein Kind über die weiße Pracht. Ich wollte hinaus und zog mich an. Robert rief, er komme mit.

Als Michaela, die im Bett lag und Text lernte, uns hinausgehen sah, zog auch sie sich an.

Wir waren ein merkwürdiges Trio. Robert rannte vorneweg, ich hinter ihm her und mir dicht auf den Fersen Michaela. Sobald Robert außer Hörweite war, begann sie zu zetern, wieso ich mich plötzlich für Robert interessiere und ob ich ihr den Jungen abspenstig machen wolle.»Warum bist du so? Was hab ich dir getan? Warum bist du so?«rief sie immer wieder.

Wir liefen querfeldein. Der Boden unter dem Schnee war nicht überall gefroren, und manchmal mußten wir rennen, um nicht einzusinken. Michaelas Gerede erschöpfte mich mehr als die körperliche Anstrengung. Gern wäre ich umgekehrt. Aber Robert wollte noch zum» Silbersee«.

Der Teich war zugefroren und spiegelglatt. Robert und Michaela schlitterten um die Wette. Mehrmals glaubte ich schon, das Eis brechen zu hören. Ich wandte mich zum Gehen, damit die beiden zusammenblieben. Als ich mich noch einmal nach ihnen umsah, traf mich ein Schneeball ins rechte Auge. Es war nicht nur Schnee, wie Michaela behauptete, jedenfalls tat es so höllisch weh, als habe ein Steinchen oder Splitter mein Auge verletzt. Ich sah nichts mehr und befürchtete das Schlimmste.

Robert nahm mich an der Hand, als müßte ich geführt werden. Er ließ meine Hand auch auf dem Feld nicht los, während Michaela mir riet, mich nicht so anzustellen.

Werden Sie mir glauben, wenn ich sage, daß ich auf dem Weg über das verschneite Feld vollkommen glücklich gewesen bin? Doch genau so war es. Ja, ich weinte, weil mein rechtes Auge so sehr schmerzte, aber viel mehr weinte ich vor Glück.

Wie soll ich es erklären?

Der Schmerz hatte mich aufgeweckt! Endlich begriff ich, was ich seit der Nacht am Kreuzweg und dem Besuch bei Tante Trockel wußte: Mein altes Leben lag hinter mir. Oder besser: Jetzt begann ich überhaupt erst zu leben.

Seit meinem Sündenfall hatte ich mit der Zeit gegeizt, kein Augenblick, in dem ich nicht ein Getriebener gewesen war, der allein dafür lebte, aus jedem Tag und jeder Stunde noch mehr Schreiben, noch mehr Literatur, Werk und Ruhm zu schinden.378

Endlich hatte ich mich von der Kunst, von der Literatur befreit und mit ihr von der Zeit. Plötzlich war ich einfach nur noch da, um zu leben, zu genießen, ich mußte nichts mehr schaffen!379

Es gab Robert und Michaela, den Schnee und die Luft, in der Ferne das Bellen der Hunde und die Geräusche der Straße, all das nahm ich wahr, als hätte ich soeben erst diese Erde betreten, als befände ich mich erstmalig inmitten der Welt. Ach, Nicoletta, werden Sie mich verstehen?380

Leicht, befreit und glücklich lief ich hinter Robert her. Und als aus Oberlödla ein großer Hund auf uns zugerannt kam und Robert und Michaela sich hinter mir zu verstecken suchten, brachte ich den kläffenden Köter schnell dazu, sich an meine Knie zu drücken und die Augen zu schließen, während ich ihm Hals und Kopf kraulte.

Das verwahrloste Tier begleitete uns bis zur Straße. Robert hatte einen Wagen angehalten, der uns in die Poliklinik brachte. Vor dem Eingang lief ich Dr. Weiß, meinem Arzt, in die Arme. Er glaubte wohl, ich hätte einen Vorwand gefunden und käme, um mich weiterhin krank schreiben zu lassen. Deshalb behandelte er mich etwas von oben herab. Doch als ich ihm sagte, daß ich, ganz gleich, was mit dem Auge sei, keine Krankschreibung wolle, und er mir fast mit Gewalt das rechte Auge öffnete, war es das freundliche Gesicht von Dr. Weiß, das ich als erstes wieder mit beiden Augen erblickte.

Damit bin ich am Ende meiner Geschichte. Was weiter geschah, wissen Sie selbst. Nun wäre die Reihe eigentlich an Ihnen. Was mich angeht, stünde einer Reise nach Rom nichts im Weg.

Ihr

Enrico Türmer

ANHANG

Die sieben im Anhang versammelten Texte fanden sich auf der Rückseite von 20 der insgesamt 33 Briefe an Nicoletta Hansen. Die rechte Hälfte der Manuskriptseiten war unbeschrieben, um Platz für Korrekturen zu lassen. So erklärt sich der im Vergleich zum jeweiligen Brief geringere Umfang. Obwohl Türmer teilweise ausführlich auf einzelne Arbeiten eingeht, nimmt er doch nie direkt Bezug auf die Rückseiten. Lediglich am Ende des Briefes vom 9. Juli findet sich eine eher fragwürdige Herleitung dieser doppelgesichtigen Blätter. Über Motive und Absichten Türmers ließe sich spekulieren. Ich habe mich darauf beschränkt, den zeitlichen Zusammenhang der» Rückseiten «mit den entsprechenden Briefen zu dokumentieren.

Die Lesbarkeit seiner Arbeiten muss Türmer offenbar wichtig gewesen sein, sonst ginge die Chronologie der Briefe nicht einher mit der Chronologie der einzelnen Prosaversuche. Der Abdruck hält sich an die von Türmer vorgegebene Reihenfolge.

I. S.

[Brief vom 9. 3. 90]

SCHNITZELJAGD

… und sende Euch viele Grüße aus Thalheim! In unserem Ferienlager ist immer was los. Nie bleibt Zeit zum Schreiben. Nur heute regnet es dauernd. Die Stimmung ist klasse. Adelheid, die unsere Gruppe leitet, hilft immer, auch wenn jemand immer noch nicht richtig sein Bett machen kann. Es ist uns ja oft genug gezeigt worden. Die Mädchen aus den andern Gruppen beneiden uns wegen Adelheid. Nur wenn abends Schluß ist und das Licht aus und wir in den Betten liegen, dann ist sie nicht mehr da.

Wir haben oft Dienst in der Küche oder Saubermachen. Ich komme mit allen gut aus. Zweimal war Tanzabend. Morgen ist wieder Tanzabend. Die Großen sind alle in Rolf verliebt, den Stellvertreter von Herrn Funke. Der hat ein Moped und Helm. Herr Funke sagt immer: Sein Rolf ist seine rechte Hand. Am Gedenkstein hat Rolf Trompete gespielt, um alle Opfer zu ehren. Davor machten wir Subbotnik und jäteten Unkraut.

Gestern war Schnitzeljagd. Maik hat ganz schön geweint, als er vortreten mußte. Frau Borchert hat den Brief vorgelesen. Maik will nicht im Ferienlager sein. Frau Borchert hat ihn gefragt, was er denn zu Hause will, wo doch alle arbeiten und niemand Zeit für ihn hat und die Kinder alle im Ferienlager sind. Wir haben ganz schön lachen müssen. Herr Funke hat dann gefragt, warum er lieber zu Hause spielen will und nicht hier im Ferienlager. Er sollte sagen, was ihm nicht gefällt. Da hat er natürlich nichts gewußt. Erst solche Briefe schreiben und dann keinen Mucks rausbringen und sich nie ausmären. Adelheid sagt: Maik ist ein Kandidat fürs Abhauen. Kinder wie Maik hauen leicht mal ab, und dann müssen Polizei und alle anderen suchen gehen. Und in der Zeit kann natürlich allerhand passieren und niemand ist dann da, weil die Maik suchen müssen.

Maik hat angefangen zu heulen. Das hätte er sich eher überlegen sollen. Wir waren alle erschrocken, weil Maik gegen die Lagerordnung verstoßen hat. Herr Funke hat ihn gefragt, aber natürlich wieder kein Mucks. Herr Funke sagte, er hat keine Wahl mehr, wenn Maik nicht redet. Das hat Maik sich selbst eingebrockt. Aber eine Chance gibt er ihm noch. Da kann sich Maik bewähren und Maik hat genickt und dann hat er ja gesagt. Wir sind dann zum Sportplatz marschiert und haben Appell gemacht. Als Brigadeleiter melde ich immer die Bereitschaft. Es ist großer Mist, wenn ich als letzte melde, weil jemand aus meiner Brigade schwatzt und einfach nicht zur Ruhe kommt. Wir mußten uns mit Maik befassen. Maik hat allen gelobt, nicht abzuhauen. Da hat er was gutzumachen. Solche Briefe schreiben! Wenn die in falsche Hände fallen hat Herr Funke gesagt. Überall auf der Welt sehnen Kinder sich nach Ferienlager wie bei uns und müssen arbeiten gehen und dürfen nie in ein Lager. Und zu essen haben sie auch nicht genug. Aber wir dürfen jedes Jahr fahren. Alle waren dafür, daß Maik es macht. Herr Funke hat gefragt, wer nicht damit einverstanden ist, aber alle wollten das mit Maik, und der hat selbst die Hand gehoben, also einstimmig. Er ist dann losgerannt, wie er war, mit kurzen Hosen und Unterhemd. Wir haben alle laut gezählt, acht, neun, zehn, Klasse! Auf Klasse gings los! Maik rannte mit dem Sack den Weg hoch zum Wald. Herr Funke hat noch gerufen, er soll dran denken, er hat schließlich was gelobt. Dann hat Herr Funke geredet und gesagt, wir sollen uns jetzt nicht blamieren. Eine halbe Stunde Vorsprung ist ganz schön lang. Aber wir müssen eben üben bis es klappt. Immer üben am besten jeden Tag. Schnitzeljagd ist nämlich eine feine Sache, hat Herr Funke gesagt, und die Küche wird auch entlastet. Wenn es nach Herrn Funke ginge, würde viel mehr Schnitzeljagd gemacht, überall bei uns in der Republik. Vier Gruppen haben wir gebildet. Die großen Jungens wurden in zwei Gruppen geteilt. Und ein paar von den großen Mädels dazu. Wir sollten Tannenzapfen sammeln. Adelheid hat alles in Beutel getan und zugemacht und die Jungens nahmen es mit. Herr Funke ging natürlich mit und auch Rolf. Wir haben hier die Augen aufgemacht. Kann ja keiner wissen was so ein Maik macht. Wenn der die Kurve kratzt und plötzlich hier ist und alle im Wald. Wir hielten die Augen auf und sammelten Holz. Wir haben es dorthin getan wo immer Anstoß ist, also genau in die Mitte vom Sportplatz. Im Wald war mir mulmig, aber keiner wollte Schiß haben. Immer schreien hat Adelheid gesagt, wenn Maik kommt schreien. Kann gar nix passieren. Der ist bestimmt fünf Zentimeter kleiner als ich. Na ja, wir haben die Augen aufgehalten. Mehr als genug Holz war dann rangeschafft. Konnte keine meckern. Und dann hörten wir die Sirene. Herr Funke hat die Lagersirene mitgenommen. Und da wußten wir, es hat geklappt. Dann sind wir los mit Adelheid und Sylvia, die ganz lange Haare hat bis zum Po. Die wird immer schnell zum Tanzen aufgefordert. Sylvia ist die Schönste im Lager. Sie hat auch einen breiten Gürtel mit goldner Schnalle dran, sie will mir von ihren Eltern einen besorgen wenn wir zurück sind, weil ihr Vater den besorgen kann. Dann haben wir beide einen. Bestimmt einen Kilometer sind wir in den Wald rein. Adelheid zeigte uns Kacke von Rehen oder andern Tieren. Das wollen wir in den nächsten Tagen mal lernen und auch die Vogelstimmen erkennen.