Ich muß gestehen, ich hatte in dem Augenblick wirklich gehofft, daß sich die beiden Kerle gegenseitig an die Kehle gehen würden. Aber meine Hoffnung wurde nicht erfüllt. Mit einem Mal verzerrte sich Sidos’ Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse, und die erhobenen Fäuste sanken wie von einer unsichtbaren Kraft gezwungen nieder. Er zischte Yaccur einen gemeinen Fluch zu und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Auch Yaccur wirkte mit einem Male stiller; fast ängstlich - ein Verhalten, für das ich im ersten Moment keine Erklärung fand. Er warf sich in einen Sessel, ballte die Fäuste und begnügte sich damit, abwechselnd mir und seinem Kumpan bitterböse Blicke zuzuwerfen.
Dann stand er, noch immer wortlos, auf, kam zu mir herüber - und versetzte mir einen Faustschlag, der mir auf der Stelle das Bewußtsein raubte.
Das Klirren einer Kette weckte mich. Mein Schädel dröhnte, als hätte ihn ein böser Geist als Trommel mißbraucht.
Ich wollte mich auf die andere Seite wälzen. Da klirrte die Kette erneut, und ich wurde von einer eisigen Hand zurückgerissen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß es sich um keine Hand handelte, sondern um einen Eisenring, der eng um meine Taille lag. Das Klirren kam von zwei Ketten, mit denen der Ring am Boden befestigt war.
Dann merkte ich, daß auch meine Arme mit Ketten an den Boden gefesselt waren und ich nur noch die Beine bewegen konnte.
»Waidmannsheil, Robert Craven! Der Hirsch ist zwar noch nicht tot, aber gestellt. Die Jagd ist vorbei. Endlich, denn es hat eh viel zu lange gedauert. Das Labyrinth ist schon ungeduldig geworden!«
Ich schloß die Augen, um Rattengesichts Visage nicht sehen zu müssen. Aus und vorbei, hämmerten meine Gedanken. Ich fühlte weder Verzweiflung noch Angst. Dafür machte sich eine große Müdigkeit in mir breit. Mir war in diesem Augenblick egal, was aus mir werden würde. Nur schnell sollte es gehen.
»Eigentlich schade, daß ein so mächtiger Magier wie Sie ein so unrühmliches Ende nimmt. Sie könnten mir sicher viel erzählen«, sagte er kichernd. »Wissen Sie was? Wenn das Labyrinth mit Ihnen fertig ist, werde ich Sie zu meinem dritten Wächter machen. Sie haben Croff umgebracht. Also werden Sie ihn ersetzen. Das ist doch logisch, oder?«
Ich achtete nicht auf sein Gefasel, sondern sah mich um, soweit es meine Fesseln zuließen. Ich war nicht mehr in dem Raum, in dem mich die beiden Burschen überwältigt hatten, sondern befand mich in einer gewaltigen Halle. Sie war leer bis auf ein riesiges, monströses Etwas, einen Altar, der fast die Form eines gewaltigen Totenschädels hatte.
Die Augenhöhlen strömten eine dämonische Kraft aus, die sogar Decke und Wände erschaudern ließ, und die irgendwie anders war als die Kraft der GROSSEN ALTEN. Der Mund wurde immer größer, bis er den Kopf wie ein gezackter Riß in halber Höhe waagerecht spaltete. Einen Moment betrachtete der Schädel aus seinen glühenden Augen die Umwelt, dann sog er zum ersten Mal den Atem ein.
Es klang wie das Brüllen und Röhren von tausend Büffeln. Rattengesicht drehte sich erschrocken um und starrte entsetzt auf das Ding. In seiner Erregung machte er mich für die Verwandlung verantwortlich.
»Ihre magischen Tricks können Ihnen doch nicht mehr helfen, Craven«, fuhr er mich an und schrieb mit der Hand eine Abwehrrune in die Luft. Doch das Ding dachte nicht daran, sich diesem Zauber zu beugen. Im Gegenteil. Es wuchs bis zur Decke hoch und drängte ihn dabei auf mich zu.
Im Bruchteil eines Augenblicks erkannte ich meine Chance und zog die Beine an den Leib. Mit aller Kraft schnellte ich sie wieder von mir und gab Rattengesicht einen Stoß, der ihn mitten in das riesige, rote Maul hineinschleuderte.
Sein Schrei gellte durch die Halle, steigerte sich zu einem schrillen Heulen und erlosch schlagartig. Sidos und Yaccur, die sich im Hintergrund gehalten hatten, stürzten brüllend auf mich zu. Doch sie erreichten mich nicht. Das Tor explodierte förmlich und packte die Diener des Labyrinths. Einen kurzen Moment lang schwebten sie in der Luft, dann verschwanden auch sie im unersättlichen Maul des Riesenschädels.
Das Tor erreichte die Rückwand der Halle und sprengte sie auf. Ziegel und zerborstene Balken regneten herab und wurden von dem gierigen Maul verschluckt.
Ich schrie mit, um mein eigenes Entsetzen zu betäuben. Das zu einer riesigen Dämonenfratze verwandelte Tor war bis auf Armlänge an mich herangekommen.
Schon spürte ich seinen heißen Atem über mich streichen. Ich sah mich schon in seinen Schlund verschwinden und wußte ganz deutlich, daß es diesmal kein zweites Tor geben würde, durch das ich die Zwischenwelt wieder verlassen konnte. Das Ding, das aus dem Tor der GROSSEN ALTEN entstanden war, dieser brennende Teufelsschädel, war mehr als ein geistloses Werkzeug. Es war ein Monstrum, eine grauenhafte Perversion alles Lebenden. Es fraß alles, was es erreichen konnte. Sein Opfer war das Labyrinth selbst, und alles, was sich darin aufhielt. Unter anderem ich.
Steine und Balken lösten sich aus der Decke und prasselten auf meinen Stockdegen nieder, der neben dem Portal lag. Ich zerrte verzweifelt an meinen Ketten, und - zerbrach sie mit einem Ruck. Verwirrt starrte ich auf das spröde, zerfallende Metall, das ich in meinen Fingern hielt, schleuderte es dann in das Maul und sprang auf die Füße. Im gleichen Moment glühte der Shoggotenstern meines Degenknaufes unter den Trümmern auf, so als hätte er auf mich gewartet. Ich riß die Waffe an mich und taumelte ins Freie.
Hinter mir zerfiel die Halle zu Staub, und ein großer Teil des Labyrinths verschwand auf Nimmerwiedersehen im Tor. Doch dieser Happen regte den Appetit des Schädels nur noch mehr an. Er saugte alles, was sich in seinem Bereich befand, in sich hinein. Selbst die Marmorplatten konnten ihm nicht widerstehen. Sie brachen krachend aus dem Boden und flogen dicht an mir vorbei in das Riesenmaul.
Ich rannte, so schnell mich meine schmerzenden Knochen trugen, und fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis mich eine zusammenbrechende Wand oder ein herabstürzender Stein umbrachte - oder die Hitze des flammenden Schädels, der sich in die Substanz des Labyrinths hineinfraß. Ich versuchte erst gar nicht zu verstehen, was da um mich herum vorging. Zum Nachdenken war später noch Zeit. Wenn ich dann noch lebte ...
Kurze Zeit später erreichte ich die Mauer, entdeckte eine Pforte und rannte darauf zu. Mit fliegenden Händen schob ich den Riegel zurück und wollte die Tür aufstoßen. Doch sie war in den Angeln festgerostet. Verzweifelt warf ich mich dagegen und rüttelte an ihren Gitterstäben, bis mir die Handflächen aufplatzten und Blut in meine Ärmel rann.
Da packte eine lange Feuerzunge nach mir, erwischte aber nur die Pforte und riß sie buchstäblich in Stücke. Ich zwängte mich hastig durch die Öffnung und stürmte auf die Straße hinaus.
Oder das, was ich für eine Straße gehalten hatte.
Ich wußte nicht, was geschah: die Welt schien vor meinen Augen zu einem Vorhang aus wirbelndem Grau und auf und ab tanzenden Schleiern zu zerschmelzen: ich sah Umrisse, Gesichter, Visionen, eine Stimme: »Jetzt! Holt ihn heraus!«
Und dann das Kreuz.
Das Bild war ganz deutlich: ein flammendes, gleichschenkeliges Balkenkreuz in blutigem Rot, das wie ein Fanal durch das Chaos der zerberstenden Wirklichkeit auf mich herabstieß.
Ich schrie, riß die Hände über den Kopf und versuchte zur Seite zu springen. Aber meine Reaktion kam zu spät.
Plötzlich waren die tobenden Schatten verschwunden, und die Welt versank im grellen Rot des Kreuzes ...
Das nächste, was ich bewußt wahrnahm, waren Stimmen. Die Stimmen von vier, fünf, vielleicht mehr Menschen, die sich gedämpft miteinander unterhielten, dazu all die anderen, einzeln kaum erkennbaren Laute, die mir verrieten, daß ich nicht allein und zumindest in einem halb realen Teil der Welt war, einer Welt, in der es wieder lebende Menschen und richtige, massive Häuser gab, Häuser aus Stein und Holz, die nicht versuchten, einen aufzufressen.