Ich folgte der Einladung, und auch Looskamp zog sich eine Sitzgelegenheit heran und ließ sich darauf nieder. Er sah sonderbar aus in seinem mittelalterlichen Ritterkostüm, ein mächtiges, zweischneidiges Schwert an der Seite und die Ärmel des Kettenhemdes unordentlich nach oben geschoben, so daß seine muskulösen Unterarme sichtbar wurden.
»Sehen Sie, Craven«, begann er schließlich, »als wir Sie aus dem Labyrinth holten, war das alles andere als Zufall. Denken Sie nicht, daß es leicht war - ein Dutzend der Begabtesten von uns waren nötig, die dämonischen Kräfte dieses Höllenwesens zu brechen. Wir haben uns alle in Gefahr begeben, denn hätte das Labyrinth unser Eingreifen vor der Zeit bemerkt, so hätte es zweifellos versucht, auch uns zu vernichten.«
»Was soll das?« murrte ich. »Wollen Sie mir Schuldgefühle verpassen?«
»Ja«, antwortete Looskamp lächelnd. »Zumindest möchte ich Sie erinnern, daß Sie uns ... sagen wir, eine gewisse Hilfe schuldig sind.«
»Hilfe?« wiederholte ich. »Und wobei?«
Looskamp machte eine besänftigende Geste. »Gleich, Craven. Zuerst lassen Sie mich zu Ende erklären, damit Sie auch wirklich verstehen, was wir von Ihnen wollen. Wir wußten schon, daß Sie kommen, ehe Sie Amsterdam erreichten. Bruder DeVries informierte uns noch vor seiner ... Niederlage. Sie haben keinen Schritt getan, von dem wir nicht wußten.«
Seine Worte stimmten mich nicht gerade versöhnlicher. Ich mag es nicht, wenn man mich wie eine Figur in einem Spiel behandelt. »Auch als ich ... in die Van Dengsterstraat ging?« fragte ich mißtrauisch.
Ein flüchtiger Schatten huschte über Looskamps Gesicht. »Ja«, gestand er. »Wir wollten Sie warnen, aber wir waren nicht schnell genug. Und wir hatten nicht genügend Vertraute in Ihrer Nähe, um Ihnen direkt zu Hilfe eilen zu können. Aber wir haben Sie beobachtet. Jeden Schritt, den sie im Einflußbereich des pervertierten Tores getan haben.«
»Des was?« machte ich.
Looskamp lächelte. »Gemach, Craven. Sie werden alles erfahren. Aber zuvor möchte ich etwas von Ihnen wissen.«
»Und ... was?« fragte ich gedehnt.
»Wir brauchen Ihre Hilfe«, antwortete Balestrano an Looskamps Stelle. »Wir möchten Sie bitten, uns bei einer Mission zu helfen. Möglicherweise reicht es schon, wenn Sie uns begleiten.«
»Begleiten?« Ein Gefühl eisigen Schreckens breitete sich in meinem Magen aus. »Und wohin?«
»Dorthin, wo Sie schon einmal waren, Craven«, antwortete der Großmeister lächelnd. »Zum Herzen des Labyrinths.«
Es wartete. Es hatte geschlafen, millenienlang, ein träumender Gigant, dessen Träume Furcht und dessen Atem Schrecken gebaren. Dann und wann war es erwacht, wenn es die Nähe eines Opfers gespürt hatte, war wie ein schlafender Drache aus seiner Ruhe aufgeschreckt, hatte sondiert und getastet, manchmal auch gelockt, und seine Opfer mit einer blitzartigen Bewegung verschlungen.
Dann hatte es die Nähe eines besonderen Opfers gespürt, eines Opfers, wie es selbst in seinem schier endlos langen Leben nur wenige hatten erlangen können. Wie immer hatte es seine Fallstricke ausgelegt, hatte mit Visionen und Trugbildern gespielt und sein Opfer belauert, schließlich zugeschlagen.
Aber der Magier war ihm entkommen. Und er hatte ihm Schmerzen zugefügt, unerträgliche Schmerzen.
Der Schmerz war vergangen, aber der Zorn war geblieben.
Jetzt wartete es. Es wußte, daß das Opfer wiederkommen würde, denn es hatte den feindseligen Geist, von dem es beseelt war, gespürt. Es wartete und beobachtete und lauerte, belauschte die Wesen, die sich in ihrer Überheblichkeit anmaßten, sich seine Feinde zu nennen, sah zu, wie sie ihre Vorbereitungen trafen, ihre lächerlichen Waffen zusammentrugen und sich in den Wahn steigerten, seiner Macht widerstehen zu können.
Einen Moment lang war es versucht, mit aller Gewalt zuzuschlagen und ihnen zu demonstrieren, wie mächtig es war. Aber dann erkannte es, wie dumm ein solches Vorgehen gewesen wäre.
Es würde warten, bis sie von selbst zu ihm kamen, freiwillig und zahlreich. Opfer, viel mehr, als es sonst in Jahrzehnten erlangen konnte. Lebensenergie, die ausreichen würde, die Wunden zu heilen, vielleicht sogar noch seinen Machtbereich zu vergrößern.
Wäre es in der Lage gewesen, so etwas wie Freude zu empfinden, hätte es zufrieden in sich hineingekichert.
Aber das konnte es nicht, und so tat es das einzige, was ihm statt dessen ein Gefühl der Befriedigung verlieh.
Es wartete.
Es hatte Zeit.
Es war unsterblich.
»Sie wissen nicht viel über das Labyrinth, nicht wahr?« fragte Balestrano. Seine Stimme klang sanft, aber gleichzeitig wissend und mächtig.
»Nicht ... besonders«, antwortete ich stockend. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Die Worte des Alten hatten mich stärker in Erregung versetzt, als ich zugeben wollte. Glaubte er im Ernst, ich würde auch nur im Traum daran denken, noch einmal einen Fuß in dieses höllische Häuserlabyrinth zu setzen?
»Vor Urzeiten«, begann Balestrano, »war es nicht mehr als ein Tor, ein unbedeutender Bestandteil jenes magischen Transportsystems, das die Wesen, die Sie die GROSSEN ALTEN nennen, errichteten.«
»Wie meinen Sie das?« hakte ich nach. »Haben Sie einen anderen Namen für sie?«
Balestrano nickte. Auf seiner Stirn erschienen drei steile Falten. »Ja. Den haben wir in der Tat, Craven. Aber das spielt im Moment keine Rolle. Lassen Sie mich zu Ende berichten, denn die Zeit drängt. - Das Herz des Labyrinths«, erklärte er weiter, »wurde vor unendlichen Zeiten von den GROSSEN ALTEN als ein Zentrum ungeheurer magischer Kräfte geschaffen. Welchen Zweck sie damit verfolgten, habe ich leider nicht herausfinden können.
Nur eines ist sicher: das Labyrinth hat damals noch nicht existiert. Erst als die GROSSEN ALTEN bezwungen wurden und diesen Pol magischen Potentials nicht mehr kontrollierten, konnte es sich selbständig machen und zu wachsen beginnen.
Es wurde im Verlauf der Jahrhunderttausende immer stärker und begann zuletzt eigenes Leben und eigene Intelligenz zu entwickeln. Doch schon bald reichten die Kraftreserven nicht mehr aus, die das neu geschaffene Wesen dem magischen Pol, aus dem es entstanden ist, entziehen konnte.
Um seine unheilvolle Existenz zu erhalten, mußte es sich andere Formen von lebender Energie suchen und begann zunächst, Tieren ihre Lebenskraft zu entziehen. Aus dieser Zeit stammen die Ungeheuer, die in seinen Tiefen leben.
Aber die von den Tieren gewonnene Kraft genügte diesem ungeheuerlichen Geschöpf nicht. Um seinen Hunger nach essentieller Nahrung zu stillen, griff es nach den Lebensenergien von Menschen und verleibte sie sich samt ihren Häusern, Burgen, Schlössern und heiligen Stätten ein. Dabei entdeckte es schon bald, daß es Menschen und auch von Menschen geschaffene Orte mit einer besonderen Art von geistiger Kraft gab ...«
»Magie?« warf ich ein und erntete dafür einen bösen Blick.
»Natürlich nicht nur Magie! Jede Art von spiritueller Kraft dient dem Labyrinth-Ungeheuer als Nahrung! Das Monstrum, das aus den außer Kontrolle geratenen Kräften der GROSSEN ALTEN entstand, ließ sich als Parasit in den menschlichen Zivilisationen nieder, verleibte sie sich häuser- und städteweise ein und wuchs und gedieh wie nie zuvor.
Doch gerade die Menschen mit magischen Fähigkeiten, die seine liebste Beute waren, ließen sich am schwersten fangen. Sie setzten sich zur Wehr und schlugen die Angriffe des Wesens öfter zurück, als daß sie ihm zum Opfer fielen.
Da verlockte das Wesen Adurias, einen der Magier, der sich gegen ihn behauptet hatte, in seine Dienste zu treten. Auf seinen Wanderungen durch Raum und Zeit hatte es die Landschaften und Gebäude zusammengestohlen, aus denen Adurias nun ein fallenreiches Labyrinth schuf. Kein Zauberer und kein Magier sollte mehr eine Chance bekommen, dem Zugriff des unheilvollen Wesens zu entgehen. Soweit ich weiß, ist dies auch nur noch einigen wenigen Mächtigen gelungen. Sie haben Adurias kennengelernt.«