»Rattengesicht?«
Balestrano lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. »Ja. Aber er ist tot. Und er war nicht nur der Köder des Labyrinthes. Er hat es - in gewisser Weise - auch beherrscht, es immer wieder am endgültigen Erwachen zu hindern gewußt, denn schließlich hätte dies auch sein eigenes Ende bedeutet.« Er schwieg einen Moment und starrte ins Leere. Dann gab er sich einen sichtlichen Ruck.
»Aber weiter«, sagte er. »Das Tor entartete und wurde zu etwas Fremden und Bösen, das nicht einmal seine alten Herren anerkannte, sondern selbst sie vernichten würde, hätte es die Gelegenheit dazu.«
»Das habe ich gesehen«, murmelte ich, aber wieder machte Balestrano diese schnelle, ärgerliche Geste, die mich davon abhielt, weiter zu sprechen.
»Nichts haben Sie gesehen, Craven«, fauchte er. »Was Sie gesehen haben, waren Visionen. Bilder, die dieses Ungeheuer Ihnen vorgegaukelt hat, um Sie zu verwirren und in Furcht zu stürzen. Schein und Wahrheit sind dort nicht mehr, was Sie hier in unserer Welt sind, Craven. Es kämpft mit den Waffen der Hölle, und die Lüge ist eine ihrer mächtigsten. Was wirklich geschah, haben Sie nicht gesehen.«
»Aber wir«, sagte Looskamp düster. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck ehrlicher, tiefer Sorge.
»Es war kein Zufall, daß sich ein Dutzend der besten Magier unserer Bruderschaft hier in Amsterdam aufhielt, Craven«, sagte er.
»Ich weiß.«
Looskamp lächelte verzeihend. »Jetzt überschätzen Sie Ihre Wichtigkeit, Robert«, sagte er in gutmütigem Spott. »Wir warfen ein Auge auf Sie, als wir hörten, daß Ihr Weg Sie nach Amsterdam führte, aber wir kamen nicht Ihretwegen zusammen.«
»Und weshalb dann?« fragte ich.
»Das Labyrinth«, antwortete Looskamp, nun wieder vollkommen ernst. »Mit dem Auftauchen derer, die Sie die ... GROSSEN ALTEN nennen« - er sprach den Namen erst nach kurzem Zögern und dann sehr hastig aus, als hätte er eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen - »erwachten auch die Kräfte des pervertierten Tores wieder. Es hat geschlafen, Tausende und Tausende von Jahren. Das, was Sie als das Labyrinth kennen- und zweifellos fürchtengelernt haben, war nur ein schwacher Abglanz seines wahren Selbst. Nicht mehr als ein Schatten, den seine Träume in die Wirklichkeit warfen.«
»Und jetzt ... jetzt erwacht es?«
Looskamp nickte. »Ja. Der Prozeß begann vor einem Jahr, aber selbst wir spürten es erst, als es fast zu spät war. In gewissem Sinne haben Sie ihn sogar beschleunigt, durch Ihr Eingreifen.« Er hob rasch die Hand, als ich auffahren wollte. »Aber Sie haben es auch geschwächt. Die Wunde, die Sie ihm zugefügt haben, ist schmerzhaft, wenn auch nicht tödlich. Trotzdem wird es erwachen. Sehr bald.«
Er sprach nicht weiter, und auch ich schwieg eine ganze Weile. »Und jetzt wollen Sie, daß ich Ihnen helfe, es vollends unschädlich zu machen?« fragte ich schließlich.
Looskamp nickte, stand auf und ging wortlos zu einem der kleinen, an der Wand aufgehängten Schränke. Als er zurück kam, hielt er einen langen, in ein Tuch eingeschlagenen Gegenstand in der Hand.
Ich fuhr zusammen, als Looskamp den weißen Stoff zurückschlug und ich erkannte, was er verborgen hatte.
Es war mein Stockdegen. Die Waffe, die mir mein Vater hinterlassen hatte.
Im letzten Moment unterdrückte ich den Impuls, danach zu greifen, konnte aber wohl ein verräterisches Flackern in meinem Blick nicht ganz verhindern, denn Looskamp lächelte auf sehr eigentümliche Weise, legte den Degen vor sich auf den Tisch und setzte sich wieder.
»Sie müssen verrückt sein«, murmelte ich. »Ich ... ich bin diesem ... diesem Schatten, wie Sie es nennen, mit Mühe und Not entkommen, und selbst dazu war Ihre Hilfe nötig. Und jetzt erklären Sie mir, daß wir hingehen und dieses Ding vernichten sollen! Was erwarten Sie? Daß es stillhält?«
»Natürlich nicht«, sagte Balestrano ärgerlich. Er beugte sich vor, streckte den Arm aus und griff mit einer dürren, weiß behandschuhten Hand nach dem Degen. Etwas schien sich in mir zusammenzuziehen, als ich sah, wie er den Knauf aus milchigem Kristall in die Höhe und gegen das Licht hielt.
Dann sah er wieder mich an. »Wir sind vielleicht Ihre Feinde, Robert Craven«, sagte er, »obwohl dieses Gefühl keineswegs auf Gegenseitigkeit beruht, wie ich Ihnen versichern darf. Bruder DeVries hat es ehrlich gemeint, als er Ihnen anbot, zu uns zu kommen. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wie gesagt: Wir sind vielleicht Ihre Feinde, aber wir sind nicht dumm. Wir kennen die Macht des Labyrinthwesens; besser als Sie. Und wir wissen, wie es zu vernichten ist.«
»Warum haben Sie es dann nicht schon lange getan?« fragte ich zornig.
Balestrano drehte den Stockdegen scheinbar versonnen in den Händen. Der Wunsch, aufzuspringen und ihm die Waffe zu entreißen, wurde immer stärker in mir.
»Weil wir es nicht konnten«, sagte er schließlich. »Weil uns etwas fehlte, Craven. Eine Waffe.«
»Eine ... Waffe?« wiederholte ich stockend.
Balestrano lächelte kalt. »Diese Waffe«, sagte er, beugte sich vor und hielt mir den Degen hin.
Verblüfft starrte ich erst ihn, dann den Degen, dann wieder ihn an und griff schließlich zögernd nach dem vermeintlichen Spazierstock mit dem großen, milchigen Knauf aus gesprungenem Kristall.
»Sie ... wissen ...?« murmelte ich verstört.
Balestrano nickte. »Selbstverständlich. Wir wissen von dem besonderen Shoggotenstern, der im Knauf dieser Waffe eingearbeitet ist, und wir wissen von seiner Tödlichkeit für die, die Sie die GROSSEN ALTEN nennen.« Er lächelte und verschränkte die Hände vor der Brust.
»Sie sehen, wir sind ehrlich zu Ihnen«, fuhr Balestrano fort. »Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter, Craven. Ich gestehe Ihnen ein, daß uns die Waffe allein nichts nutzt. Nur in Ihren Händen entfaltet sie ihre ganze, vernichtende Macht. Bruder Looskamp oder ich könnten das Labyrinthwesen damit verletzen, mehr nicht. Sie können es töten.«
Ich zögerte, zu antworten. Balestranos Offenheit verwirrte mich, und ich spürte genau, daß er die Wahrheit sagte.
»Und es ist nicht einmal nötig«, fügte Balestrano hinzu. »Bruder Looskamp wird es Ihnen erklären, wenn Sie einverstanden sind, uns zu begleiten. Es gibt einen Weg, es unschädlich zu machen, ohne es zu zerstören.«
Verwirrt blickte ich zwischen den beiden ungleichen Männern hin und her. Ich spürte, daß jedes Wort, das sie sagten, genau berechnet war. Sie spielten sich die Sätze zu wie Bälle, nur, um mich zu verwirren und in die Enge zu treiben.
»Ich verstehe Ihre Sorge, Craven«, fuhr Looskamp fort. »Auch ich habe Angst, und auch die anderen, die uns begleiten werden. Aber wir haben keine Wahl. Und wir können uns schützen. Die Visionen des Labyrinths vermögen uns nichts anzuhaben, und gegen seine Kreaturen werden uns unsere Schwerter verteidigen.«
»Sicher«, sagte ich. »Das hört sich ganz einfach an. Wie ein Spaziergang.«
»Das wird es nicht werden«, fuhr der Tempelherr ernst fort. »Fünfzig unserer tapfersten Ritter werden uns begleiten, Craven, und nicht alle von ihnen werden zurückkehren. Vielleicht nicht einer. Vielleicht nicht einmal Sie und ich. Doch wir müssen es tun.«
»Und was«, fragte ich nach einer endlosen Pause, »bringt Sie auf die Idee, daß ich Sie freiwillig begleiten würde?«
»Der Umstand, daß wir Sie kennen, Robert«, antwortete Looskamp ernst. »Das Labyrinth wird erwachen, zu einem Wesen ungeheurer Macht und Bosheit. Es hat bereits zu wachsen begonnen, und wenn es erst einmal vollends erwacht ist, kann keine Macht dieser Welt sein Vordringen mehr aufhalten. Es wird sich weiter ausbreiten, Robert. Es wird die benachbarten Straßen verschlingen, die Wasser der Grachten verpesten und ganz Amsterdam unter seine Kontrolle bringen. Dann die umliegenden Städte. Schließlich das ganze Königreich. Vielleicht sogar die ganze Welt.«