Dann packte mich eine Hand, zerrte mich nach oben und hievte mich mit übermenschlicher Kraft an die Luft.
Ich warf mich zurück, spuckte Wasser und Schleim aus und sog gierig die Luft ein. Wie durch einen Schleier sah ich, wie sich dicht vor uns der letzte Akt des Dramas anbahnte.
Das Boot war schon zur Hälfte unter Wasser gezogen worden. Nicht nur einer, sondern ein ganzes Dutzend gigantischer, grüngrauer, mit riesigen Saugnäpfen und Warzen übersäter Tentakel hatte sich um den Rumpf geschlungen und zerrte es weiter in die Tiefe. Das Wasser kochte, und sein Schäumen und Brüllen verschluckte die Todesschreie der vier unglücklichen Templer, die noch an Bord des Schiffes waren.
Die Hand, die mich am Kragen gepackt und an die Oberfläche gezerrt hatte, packte ein zweites Mal zu und stieß mich grob zum Ufer hin. Instinktiv packte ich zu, ergriff die feuchte Ufermauer und zog mich mit letzter Kraft hinauf.
Looskamp kletterte wenige Sekunden nach mir an Land. Taumelnd sprang er hoch, zerrte mich auf die Füße und versetzte mir einen Stoß, der mich weitertorkeln ließ, weg von der Gracht und dem tobenden Ungeheuer, das sie beherrschte.
Ich versuchte mich umzudrehen, aber Looskamp stieß mich weiter vor sich her, bis wir eine schmale Lücke zwischen zwei der halbverfallenen Häuser erreicht hatten.
Er blieb erst stehen, als wir dreißig, vierzig Schritt von der Gracht entfernt und somit aus der Reichweite der peitschenden Tentakeln waren.
Keuchend ließ ich mich gegen die Wand sinken, sah Looskamp aus brennenden Augen an und versuchte ein Wort herauszubekommen, brachte aber nur ein würgendes Stöhnen zustande. Meine Lungen brannten, und ich begann erst jetzt, als alles vorbei war, den lähmenden Schrecken zu spüren, den der Anblick der Bestie in mir ausgelöst hatte.
»Mein Gott, Looskamp, was ... was war das?« stöhnte ich.
Das Gesicht des Tempelherrn schien zu einer steinernen Maske zu erstarren.
»Es hat schon begonnen, Robert«, sagte er leise. Sein Gesicht blieb weiter unbewegt, aber in seinem Blick stand plötzlich ein furchterfülltes Flackern. »Mein Gott, es ... es hat schon begonnen. Es weiß, daß wir hier sind.«
»Und ... die Männer?« fragte ich leise. Von der Gracht her klangen immer noch die fürchterlichen Laute des Kampfes: das Bersten von Holz, das Geräusch kochenden, von ungeheuren Gewalten auseinandergerissenen Wassers, das dumpfe, vibrierende Grollen des Ungeheuers. »Es waren noch vier Männer auf dem Boot! Sie ... sie sind verloren.«
»Die anderen«, murmelte Looskamp plötzlich. »Mein Gott, es ... es wird sie umbringen. Sie haben ja keine Ahnung!«
»Die anderen?« fragte ich verwirrt. »Wovon sprichst du?«
Looskamp starrte mich an. Dann drehte er sich schweigend um, streifte den durchnäßten Mantel von der Schulter, zog sein Schwert aus dem Gürtel und wandte sich wortlos um.
»Um Gottes willen, Ger - was hast du vor?« keuchte ich.
»Ich muß zurück«, sagte er. »Bleib meinetwegen hier, wenn du Angst hast.«
»Verdammt, darum geht es nicht!« sagte ich wütend. »Die Männer sind längst tot - begreifst du das nicht?«
Statt einer Antwort ging er los, so schnell, daß ich laufen mußte, um mit ihm Schritt halten zu können.
Das Drama war vorüber, als wir das Ufer der Gracht erreichten. Bis auf ein paar auf den Wellen schaukelnden Holztrümmern und Stoffetzen war keine Spur des Bootes oder seiner Besatzung mehr zu sehen. Aber das Ungeheuer war noch da, das spürte ich überdeutlich. Für einen Moment vermeinte ich die Blicke seiner großen, starren Telleraugen wie einen körperlichen Druck auf mir zu spüren.
Es griff an, als Looskamp noch einen halben Schritt vom Ufer entfernt war. Das Wasser spritzte in einer schaumigen Explosion auseinander, und ein gewaltiger, narben- und saugnapfübersäter Fangarm reckte sich wie eine angreifende Schlange auf den Tempelritter zu.
Aber so schnell es auch war - Looskamp war schneller. Mit einer beinahe eleganten Bewegung sprang er zur Seite und zurück, duckte sich unter dem peitschenden Tentakel hindurch und führte gleichzeitig einen mächtigen, beidhändigen Hieb.
Seine Klinge zerschnitt den oberschenkelstarken Fangarm so leicht, als bestünde er nur aus Papier.
Ein dickflüssiger, übelriechender Strahl dunkelroter Flüssigkeit schoß aus der Wunde. Looskamp keuchte, brachte sich mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit - und stürzte, als ein zweiter, nicht weniger dicker Schlangenarm aus dem Wasser schoß und sich wie eine Peitsche um seinen rechten Fuß wickelte. Ich sah, wie sich die gewaltigen Muskelstränge des Ungeheuers spannten.
Looskamp ließ sein Schwert fahren und versuchte sich mit den Händen in den Rillen des Kopfsteinpflasters festzukrallen. Aber der widernatürlichen Kraft dieser gigantischen Kreatur hatte er nichts entgegenzusetzen. Hilflos wurde er auf das Ufer zugezerrt. Und aus dem Wasser tauchten schäumend zwei, drei weitere Tentakeln auf.
Ich reagierte, ohne noch zu denken. Mit einem Satz war ich neben dem Tempelherren, riß meinen Stockdegen aus der Hülle und stieß mit aller Kraft zu. Die schlanke Klinge durchbohrte den Fangarm, ohne daß sie auf fühlbaren Widerstand gestoßen wäre.
Aber obwohl die Wunde im Vergleich mit der Verletzung, die Looskamp dem Monstrum beigebracht hatte, nicht mehr als ein Nadelstich sein konnte, war die Wirkung meines Hiebes unvergleichlich stärker.
Die gigantische Kreatur zuckte. Der Fangarm, der sich um Looskamps Bein gewickelt hatte, löste sich mit einem Ruck, der mir um ein Haar den Degen aus der Hand geprellt hätte, und schnappte mit einem saugenden Geräusch zurück ins Wasser.
Dann schien die ganze Gracht zu explodieren.
Das Wasser schoß zehn, zwanzig Meter hoch und klatschte gegen die Hauswände. Der Boden unter meinen Füßen erzitterte, und plötzlich gellte in meinen Ohren ein ungeheurer Schrei, das Brüllen einer zyklopischen Kreatur. Für einen ganz kurzen Moment konnte ich den Leib des Scheusals durch den Vorhang aus brodelndem Wasser und Schaum hindurch erkennen: ein sackähnlicher, vier oder fünf Meter durchmessender Balg, scheußlich aufgedunsen und von zwei radgroßen, lidlos starrenden Augen beherrscht. Seine acht Arme peitschten ziellos das Wasser, und für einen Moment sah es beinahe so aus, als wolle es sich auf seinen riesigen Tentakeln aus der Gracht emporstemmen, um sich auf uns zu werfen.
Dann schäumte das Wasser noch einmal auf, und als ich wieder sehen konnte, war das Monstrum verschwunden. Nur aus der Tiefe der Gracht leuchtete ein grelles, boshaftes Licht zu uns herauf, gewann für die Dauer eines Atemzuges an Intensität und verblaßte.
Ich wußte, was dieser Schein bedeutete. Ich hatte mehr als einmal gesehen, auf welche Weise die Labyrinthkreaturen starben ...
Neben mir erhob sich Looskamp stöhnend auf Hände und Knie, griff nach seinem Schwert und spuckte würgend Wasser. »Danke«, murmelte er. »Ich, ich dachte schon, es wäre aus.«
»Das war ich dir schuldig, oder? Wir sind quitt.« Ich grinste - ein wenig schief - stemmte mich hoch und reichte Ger die Hand. Dankbar griff er danach, stand ebenfalls auf und wandte sich noch einmal zur Gracht um.
»Was war das?« murmelte er. »Eines dieser ...?«
»Der GROSSEN ALTEN?« half ich ihm aus. Looskamp nickte, und ich überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Im ersten Moment dachte ich es, aber es war wohl ein Oktopus. Ein ganz gewöhnlicher Riesenkrake. Das Labyrinth muß ihn irgendwann einmal verschlungen haben.«
Statt einer direkten Antwort sah er die Gracht hinab, in die Richtung, aus der wir gekommen waren.