Die brackige Wasserstraße war nicht mehr leer. Fast ein Dutzend Boote näherte sich unserem Standort; kleine, von zwei, manchmal nur einem Ruder bewegte Schiffchen, jeweils mit drei oder vier Männern in der weißen Uniform der Templer besetzt.
Es war verwirrt. Mit seinen Millionen unsichtbaren Augen und Ohren hatte es das Geschehen im Draußen verfolgt, begierig darauf gespannt, wie sich die Sterblichen seines Angriffes erwehren würden. Es hatte nicht damit gerechnet, sie vollkommen zu vernichten; das war auch gar nicht die Aufgabe der Kreatur gewesen, die es aus den unerschöpflichen Reihen seiner Diener ausgewählt hatte. Sie hatte die Angreifer nur schwächen und in Zorn versetzen sollen.
Trotzdem war es überrascht über die Leichtigkeit, mit der die Sterblichen einen seiner stärksten Diener vernichtet hatten, und über die Schläue, die sie bewiesen.
Dann begriff es. Der Kampf hatte außerhalb seines direkten Machtbereiches stattgefunden, dort, wo seine Kreaturen schwach und verwundbar waren. Nur ein Bruchteil der dämonischen Kräfte, die sie im Inneren des Labyrinths beseelten, stand ihnen dort draußen zur Verfügung. Kaum genug, sie am Leben zu erhalten.
Es überlegte eine Weile, dann kam es zu einem Entschluß.
Die Zahl seiner Diener war beinahe grenzenlos, aber es hatte keinen Sinn, sie zu vergeuden. Die Sterblichen würden freiwillig in seinen Machtbereich kommen; dorthin, wo es sie mit seiner ganzen Kraft angreifen und mit seiner ganzen Schläue überlisten konnte.
Mit einem lautlosen Befehl rief es die anderen Kreaturen, die den Sterblichen auflauerten, zurück.
Dann wartete es.
»Halt still!«
Ger nickte und preßte die Zähne aufeinander, zuckte abermals wie unter einem Hieb zusammen, als ich den Verband festzog und seine Enden sorgsam miteinander verknotete. Er bestand nur aus einem Stück Stoff, das ich aus seinem ramponierten Leinenhemd gerissen hatte, aber er tat seine Dienste und stoppte wenigstens die Blutung.
Ich trat zurück, musterte mein Werk kritisch. »Du solltest eigentlich damit zu einem Arzt gehen«, sagte ich. Looskamp blickte stirnrunzelnd an seinem bandagierten Arm hinunter, zog eine Grimasse und machte eine wegwerfende Bewegung mit der unverletzten Hand. Der Schnitt, den ich ihm verbunden hatte, war keineswegs der einzige, er hatte fast ein Dutzend mehr oder weniger schwerer Schmisse abbekommen.
»Das erledige ich später«, sagte er. »Wenn wir zurück sind.« Er deutete bei diesen Worten auf das baufällige, schräg gegen das Nachbarhaus gelehnte Gebäude mit der weißen Marmortreppe, an deren Fuß sich seine kleine Armee versammelt hatte - oder das, was davon übrig war.
Nur siebenunddreißig der fünfzig Mann, von denen Balestrano gesprochen hatte, waren noch am Leben. Die anderen waren dem Angriff des Ungeheuers zum Opfer gefallen oder einfach verschwunden, während sie die Van Dengsterstraat bewachten - aber das hatte ich nur aus den paar Brocken, die ich hatte aufschnappen können, geschlossen.
Ein sanfter, unangenehmer Schauder lief meinen Rücken hinab, als ich zu dem heruntergekommenen Gebäude emporblickte. Es war nicht das erste Mal, daß ich dieses Haus sah - vor nicht einmal ganz zwei Tagen hatte ich schon einmal vor dieser Treppe gestanden, damals noch nicht ahnend, in welches Reich des Wahnsinns und Grauens die verquollene Tür an ihrem Ende führte. Allein bei der Vorstellung, dieses Haus noch einmal zu betreten, sträubten sich mir die Haare.
Ich löste meinen Blick mühsam von dem Bild und wandte mich wieder an Ger.
»Gibt es wirklich keinen anderen Weg hinein?« fragte ich.
Der Flame lächelte, aber es wirkte vollkommen humorlos.
»Doch«, sagte er. »Dutzende. Aber keinen, den wir gehen könnten. Auf allen anderen Wegen würden wir sterben, ehe wir seinem Herz auch nur nahe gekommen wären.«
»Hier nicht?« Ich versuchte, sarkastisch zu klingen, aber ich spürte selbst, daß meine Stimme einen eher kläglichen Klang hatte.
»Jedenfalls nicht so schnell«, antwortete Ger unbeeindruckt.
»Das Gefühl hatte ich nicht«, murmelte ich. »Verdammt, wir haben dieses Ding noch nicht einmal betreten, Ger, und du hast schon ein Fünftel deiner Männer verloren. Gib es auf!«
Looskamp schüttelte ernst den Kopf. »Du weißt, daß wir das nicht können«, sagte er leise. »Und es ist nicht so gefährlich, wie du glaubst, Robert. Ich ... war unvorsichtig.«
»Was geschehen ist, ist allein meine Schuld. Ich habe nicht damit gerechnet, daß es schon so mächtig sein könnte, uns außerhalb seines eigentlichen Machtbereiches angreifen zu können. Ich habe dir gesagt, daß uns seine Visionen nichts anhaben können, und das ist die Wahrheit. Gegen seine Kreaturen schützen uns nur unsere Schwerter. Bisher haben sie niemals außerhalb des Labyrinths zugeschlagen. Sie konnten es nicht, Robert. Aber es ist mächtiger geworden, sehr viel mächtiger. Wären wir vorbereitet gewesen, wäre das nicht passiert.«
»Aber es ist nun einmal geschehen«, widersprach ich, obwohl ich ganz genau spürte, wie sinnlos es war, den Templer von seinem Vorhaben abbringen zu wollen.
Plötzlich fiel mir etwas ein.
»Ihr habt mich doch aus dem Labyrinth herausgeholt«, sagte ich. »Du und deine Brüder. Ihr habt mich mit magischen Kräften aus diesem Ding gerettet - warum können wir es nicht auf dem gleichen Wege betreten?«
»Es wäre unser aller Tod«, antwortete Ger ernsthaft. »Zwölf unserer begabtesten Magier haben sich stundenlang konzentriert, um die Kraft für diesen einzigen Schritt aufzubringen, und auch er gelang uns nur, weil die Kreatur des Labyrinths nichts von unserer Anwesenheit ahnte. Hätte sie es gewußt, hätte sie unsere eigenen Kräfte gegen uns wenden und uns alle vernichten können. Jetzt ist sie gewarnt.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Robert. Es gibt nur einen einzigen Weg - den, den du gegangen bist.«
Er wandte sich mit einem fast zornigen Ruck um und ging, ohne mir Gelegenheit zu weiteren Fragen zu geben.
Einen Moment lang sah ich ihm nach, dann blickte ich wieder zu der Tür am Ende der Treppe hinauf. Erneut machte sich dieses eisige Gefühl in mir breit. Die Pforte schien vor meinem Blick zu zerfließen, sich zu biegen und zu zittern wie ein gewaltiges, weit aufgerissenes Maul, das sich zu einem höhnischen Grinsen verzerrte.
Im Grunde war es das wohl auch - ein Maul; das Maul dieses titanischen Molochs, der seit Äonen existierte und nichts anderes tat als zu verschlingen. Vielleicht war ich das erste seiner Opfer gewesen, das ihm jemals entkommen war. Und vielleicht - für einen ganz kurzen Moment schlich sich diese Idee wie der Funken eines Verrats in meine Gedanken - vielleicht hatte es mich sogar entkommen lassen, damit ich zurückkehrte und ihm neue, lohnendere Opfer brachte ...
Eine Hand berührte mich an der Schulter und riß mich in die Wirklichkeit zurück. Ich blickte auf.
»Wir sind soweit«, sagte Ger ernst.
Ich nickte, atmete noch einmal tief und gezwungen ruhig ein und trat mit einem entschlossenen Schritt auf die Treppe hinauf. Hinter uns setzten sich auch die anderen Templer in Bewegung - in einer weit auseinandergezogenen Formation, bei der immer zwei Männer mit Schilden einen dritten, mit einem Bogen oder einer Armbrust bewaffneten Ritter deckten.
Trotz ihrer großen Zahl war ihr Vormarsch nahezu lautlos. Erneut mußte ich die Disziplin und militärische Präzision dieser Männer bewundern. Im ersten Moment, als ich sie in ihren altertümlichen Kostümen und veralteten Waffen an Bord der kleinen Schiffchen gesehen hatte, waren sie mir hilflos, ja beinahe lächerlich vorgekommen. Aber dieser Eindruck war falsch. Vollkommen.
Ich blieb stehen, als wir die Tür erreicht hatten. Looskamp trat neben mich, lächelte aufmunternd - und trat die Tür mit einem einzigen, wuchtigen Fußtritt ein.
Looskamp, ich selbst und vielleicht ein Dutzend seiner Männer stürmten vorwärts, in den Salon, in dem ich dem buckeligen Croff und den beiden anderen Dienern Adurias beinahe zum Opfer gefallen wäre, während sich der Rest der Truppe in der Halle verteilte oder mit gezückten Schwertern die angrenzenden Räume stürmte.