Und es war noch mächtiger, als es bisher geglaubt hatte, ein Quell ungeheurer magischer Gewalten, der seine Macht ins Unvorstellbare steigern würde, wenn es sich mit ihm vereinte.
Für einen ganz kurzen Moment spürte es noch einmal einen flüchtigen Hauch von Besorgnis, das Gefühl, daß irgend etwas vielleicht nicht so war, wie es schien. Aber es verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich ganz darauf, Kraft für den entscheidenden Schlag zu sammeln ...
Der Raum war gigantisch, so groß, daß sich seine Decke und Wände in der Ferne verloren, lange ehe sie dem Blick Widerstand leisten konnten. Er mußte größer als die Insel sein, größer als R’lyeh selbst, vielleicht größer als die Höhle, in deren Zentrum der See lag. Aber dieser Gedanke verwirrte mich nur für einen Augenblick, denn wir waren nicht mehr in der Welt der Menschen, sondern im Palast des ertrunkenen Cthulhu, in dem die Naturgesetze keine Gültigkeit mehr hatten und das Innere sehr wohl größer als das Äußere eines Dinges sein konnte. Ein unheimlicher, grünlicher Schein hing wie leuchtender Nebel in der Luft, und unter unseren Füßen gluckerte eine knöcheltiefe Schicht aus Tang und sterbenden Muscheln, stieläugigen Tiefseefischen und Wesen, die noch keines Menschen Auge zuvor erblickt hatte. Aber an all diese verschwendete ich wenig mehr als einen flüchtigen Gedanken. Meine ganze Konzentration galt dem gigantischen, aus erstarrter Lava geformten Thron, der sich vor uns erhob. Und dem unbeschreiblichen Etwas, das häßlich und tot auf ihm lag; gestorben, als die Welt noch leer und die Sterne jung waren, und doch nur schlafend; eine groteske Spottgeburt, die sich jedem Versuch, sie zu beschreiben, entzog.
Es war Cthulhu, der mächtigste der GROSSEN ALTEN, der träumende Gott selbst!
Looskamp stöhnte. Seine Hand schmiegte sich so fest um den Griff seines Kreuzfahrerschwertes, daß seine Gelenke knirschten. Sein Gesicht verzerrte sich.
Aber als ich auf den gigantischen Lavathron zueilen wollte, hielt er mich zurück und schüttelte den Kopf, in einer Art, als verlange die Bewegung unendliche Mühe von ihm.
»Nicht«, flüsterte er. »Sieh ... nicht hin, Robert. Er ist ... nicht wirklich.«
»Nicht wirklich?« wiederholte ich verwirrt. »Was meinst du dazu?«
Looskamp machte eine Bewegung, die die ganze gigantische Halle einschloß. »Nichts von dem, was du zu sehen glaubst, existiert wirklich«, murmelte er. Trotz der grausamen Kälte, die in der Luft lag, glänzte seine Stirn vor Schweiß, und in seinen Augen stand das Flackern des beginnenden Irrsinns.
»Es sind ... Erinnerungen«, fuhr er fort. »Die Erinnerungen der ... Labyrinthkreatur. Nur Trugbilder, Robert. Bilder dessen, was es gesehen hat, der Orte, zu denen es führte, und, der Wesen, die es benutzten, als es noch ein Tor war. Aber wir sind ihm nahe. Ich ... kann es spüren.«
Irritiert blickte ich zu der tintenfischköpfigen Monstrosität auf dem Riesenthron hinüber. Die Bestie kam mir ganz und gar nicht wie eine Illusion vor - aber ich hatte keinen Grund, an Gers Worten zu zweifeln. Ganz davon abgesehen, daß mir der kleine Rest logischen Denkens, der mir noch geblieben war, ganz klar sagte, daß, wäre dies hier wirklich das sagenumwobene R’lyeh gewesen, wir kaum noch am Leben sein würden. Nein - diese Stadt, der träumende Gott, und die Insel, die schäumend aus dem Meer aufgestiegen war, sie alle waren nicht mehr als Schatten, blasse Bilder, die in der Erinnerung des Labyrinthwesens und sonst nirgends Realität hatten.
Und trotzdem würden sie uns vernichten, wenn wir nur einen winzigen Augenblick unaufmerksam waren ...
Looskamp setzte sich wieder in Bewegung, und auch ich beeilte mich, an seiner Seite zu bleiben und den Anschluß nicht zu verlieren. In respektvollem Abstand zu dem Riesenthron mit dem schlafenden Krankengott begannen wir den Raum zu durchqueren.
Die scheinbare Unendlichkeit der Halle war eine Täuschung. Schon nach wenigen Dutzend Schritten schälte sich die gegenüberliegende Wand aus dem grünlich leuchtenden Nebel, und vor ihr stand etwas, das ich nur als groß und schwarz und drohend bezeichnen kann, weil es sich einer genaueren Betrachtung auf unheimliche Weise entzog. Gleichzeitig nahm das grüne Leuchten an Intensität zu, und es wurde wärmer. Auch der Geruch nach faulendem Seetang schien sich zu verstärken.
Und dann erreichten wir das, was von weitem wie ein schwarzer Altar ausgesehen hatte.
Ich erkannte es erst, als Looskamp wenige Schritte davor stehenblieb und auch mir mit Handzeichen bedeutete, zurückzubleiben.
Es war ein schwarzer, vielleicht doppelt mannshoher Höcker aus rissigem Stein, über und über mit Linien und von geheimnisvoller Bewegung erfüllten Mustern übersät, von warzigen Auswüchsen und Dingen, die wie abgerissene Fühler aussahen ...
Das Tor.
Das geheimnisvolle Herz des Tores, vor dem ich schon einmal gestanden hatte, vor nicht einmal zwei Tagen, ohne zu ahnen, was es wirklich war. Damals hatte es mir eine andere Umgebung vorgegaukelt, und auch sein Aussehen war nicht genau das gleiche gewesen. Jetzt, zum ersten Mal, sah ich es so, wie es wirklich war: alt und halb zerstört, zerfressen von Zeit und Krankheit.
Und an seinem Fuß, in einer Schale aus schwarzem Basalt und von sonderbarer Form, lag ...
Im ersten Moment glaubte ich, einen kopfgroßen, buntschillernden Diamanten zu erblicken, dann wieder erschien es mir wie ein riesiges, aus blitzendem Kristall gefertigtes Herz, das in dumpfem Rhythmus schlug und hämmerte, aber als ich näher trat, erkannte ich die zerfurchte Oberfläche, die gleichzeitig vertraute und erschreckende Form ...
Es war ein Gehirn.
Ein riesiges, blitzendes Gehirn aus geheimnisvoll leuchtendem Kristall!
Looskamp erblickte es im gleichen Augenblick, in dem ich mich danach bücken wollte. Mit einem Schrei war er bei mir, stieß mich zur Seite und griff mit beiden Händen nach der schwarzen Opferschale, in dem es lag.
Ein Blitz von grausamer Helligkeit zuckte aus dem schwarzen Kegel des Tores, stach wie eine Nadel aus Licht in Looskamps Brust und schleuderte ihn wie ein Faustschlag zu Boden. Er schrie, hielt seine verbrannten Hände vor das Gesicht und wand sich wie in Krämpfen. Gleichzeitig flackerte das grüne Licht, das die Halle erhellte, und für eine endlose Sekunde hüllte uns Dunkelheit ein.
Dann begann der Kegel zu glühen. Etwas knackte, als würde ein Hebel aus hartem Stein oder Eisen mit Gewalt umgelegt, und ein paar der Buckel und Auswüchse auf dem steinernen Kegel drehten und wanden sich auf unmögliche Weise in sich selbst.
In der Luft vor mir entstand ein grellgrüner Punkt. Rasend schnell wuchs er heran und gewann dabei immer mehr und mehr an Leuchtkraft, bis mir sein Licht die Tränen in die Augen trieb, und dann begann in seinem Herzen ein dunkler, hin und her zuckender Umriß Gestalt anzunehmen.
Es war das gleiche wie oben, in der Kirche, in der uns die Labyrinthkreaturen angegriffen hatten, nur hundertmal schlimmer und furchtbarer. Wieder materialisierte das Monstrum dicht vor mir, und erneut spürte ich seinen höllischen Atem. Aber diesmal wußte ich, daß ich ihm nicht mehr entkommen würde.
Plötzlich begriff ich, daß es mich auch oben in der vermeintlichen Kirche schon hätte vernichten können, mit der gleichen Leichtigkeit, mit der ein Mensch ein Insekt zerquetscht, das ihm lästig wird. Aber es hatte gewartet, bis ich zu ihm gekommen war, hier herunter, ins Herz des Labyrinths, wo seine Macht am größten war!
Das Ungeheuer hatte vollends Gestalt angenommen, als ich endlich aus meiner Erstarrung erwachte. Sein Brüllen übertönte die angsterfüllten Rufe der Templer und meine eigenen, hallenden Schreckensschreie, und aus seinem Krakenmaul erscholl ein fürchterliches Zischen und Geifern. Mit einem fast behäbigen Schritt trat es aus dem Zentrum des grünen Leuchtens heraus, hob die beiden Scherenarme und drang auf mich ein.