Das Tor. Der Weg, auf dem Ger und seine Begleiter gehen würden, während ich zurückblieb, um den Blutdurst der Kreatur zu stillen. Das Opfer, das verhindern würde, daß es ihnen folgte.
Das körperlose Wühlen und Brodeln in meinem Inneren wurde stärker. Eine Erinnerung blitzte hinter meinen Schläfen auf, aber wie zuvor verging das Bild, ehe ich es richtig fassen konnte.
Einer der Templer wandte sich um, trat mit einem Schritt in den Kreis aus wabernder Schwärze hinein und verschwand. Das Ungeheuer zischte wütend. Seine Tentakeln schnitten mit pfeifenden Lauten wie Peitschenschnüre durch die Luft. Aber noch immer wagte es nicht, Looskamp oder seine Begleiter anzugreifen.
Ein zweiter Tempelherr verschwand im Inneren des Tores, dann ein dritter, vierter, fünfter ...
Irgendwo in mir spannte sich etwas. Ein Gefühl, als würde eine Feder aus Stahl zusammengedrückt, immer weiter und weiter und weiter, bis der Druck unerträglich wurde. Schwärze kroch aus meiner Seele empor. Die Erinnerungen wurden deutlicher. Shannon. Ich sah Shannons Gesicht. Und ich spürte, daß er nicht tot war. Er lebte. Irgendwo in den Weiten des Labyrinths lebte er noch. Ich spürte seine Anwesenheit so deutlich wie einen kalten Hauch.
Der vorletzte Tempelherr verschwand im Inneren des brodelnden Kreises aus Schwärze, und dann standen nur noch Ger und einer seiner Männer da, der Templer schweigend und in sonderbar verkrampfter Haltung, die rechte Hand auf dem Schwert, während sein Blick unstet zwischen Ger, dem Krakenmonster und mir hin und her irrte. Looskamp hoch aufgerichtet und das Kristallhirn noch immer über den Kopf erhoben.
»Warum gehst du nicht endlich?« fragte ich. Meine Stimme hatte einen bitteren Klang, der mich fast selbst erschreckte. Ich fühlte keinen Haß, nicht einmal Zorn Ger gegenüber. Ger konnte nichts dafür, nicht wirklich. Necrons Fluch hatte mich eingeholt, das war alles. Ich war ein Hexer, und Hexer haben keine Freunde.
»Robert«, sagte er, »es -«
»Ger!« unterbrach ich ihn. »Geh und bringe deinem Herrn, was er will.«
Gers Blick flackerte. Einen Moment lang starrte er noch auf die fürchterliche Krakenkreatur, die aufgehört hatte, wild mit den Tentakeln die Luft zu peitschen, als verstünde sie, was zwischen uns vorging. Dann nickte er, wandte sich mit einem Ruck um und trat in das Tor.
Im gleichen Moment zerriß ein ungeheurer, berstender Schlag die Luft.
Die Höhle erzitterte. Ein unerträglicher, blauweißer Blitz löschte das grüne Licht aus, und plötzlich hatte ich das Gefühl, von innen nach außen gestülpt zu werden. Ich schrie auf, als die Labyrinthkreatur mit einem irrsinnigen Kreischen auf mich zusprang. Ihre tödlichen Arme peitschten auf mich herab.
Die Labyrinthkreatur hob mit einem fürchterlichen Brüllen die Arme, aber sie stürzte sich nicht auf mich, denn zwischen ihr und mir war plötzlich etwas anderes, etwas, wie eine Wolke brodelnden schwarzen Nebels, das sich zu einer Kreatur verdichtete, die ihr ähnelte, aber noch größer, noch furchtbarer und noch wilder war!
Mit einem verzweifelten Satz war ich dort, wo Looskamp gerade noch gestanden hatte, und warf mich blindlings nach vorne. Das Tor begann sich zusammenzuziehen, rasend schnell, und für eine endlose, fürchterliche Sekunde schien die Zeit stillzustehen, während ich in einem verzweifelten Hechtsprung durch die Luft segelte und das Tor vor mir weiter schrumpfte. Dann nahm ich nur noch Schwärze wahr.
Ich schwebte in einem endlosen, finsteren Nichts. Um mich herum war keine Leere, kein Raum, keine Zeit, nichts mehr. Ein Geist ohne Körper, ein Bewußtsein, in die Ewigkeit eines endlosen Augenblicks geschleudert, der Gefangene einer Dimension, aus der die Schrecken und die Alpträume stammten. Ich war allein, allein mit mir und meinen Erinnerungen, und der Furcht, die auf unsichtbaren Spinnenfüßen in meine Seele kroch.
Und dann hörte ich die Stimme.
Sie sprach zu mir, und ich verstand sie, obgleich sie Worte aus einer Sprache formte, die vor Millionen Jahren untergegangen war. Sie sprach von finsteren Geheimnissen und flüsterte von Dingen, die zu wissen den Menschen auf ewig verboten war, aber sie sprach auch von dem, was geschehen war, als ich das Labyrinth und den Machtbereich seiner Kreatur zum ersten Mal betrat. Sie selbst hatte den Keim zu ihrem eigenen Untergang gelegt, denn obgleich er nur ein Schatten war, sind doch die Träume das ureigenste Reich Cthulhus, des Obersten der GROSSEN ALTEN, und er war es, ein winziger Teil seiner träumenden Macht, die ich in mir gespürt hatte, der böse Keim, den schon die Berührung seines Schattenbildes in meiner Seele hinterlassen hatte. Er hatte den Verrat gespürt, den die Labyrinthkreatur plante.
Ohne, daß ich es auch nur ahnte, hatte ich den Tod zurück in das Labyrinth von Amsterdam gebracht, wie der Träger einer schleichenden Krankheit, der selbst nicht infiziert war, aber Tod und Verderben säte, wohin sein Atem auch fiel.
Dies und noch viel mehr flüsterte mir die unhörbare Stimme zu, und obgleich ich keinen Beweis, keinen logischen Anhaltspunkt dafür hatte, wußte ich, daß es Cthulhu selbst war, der in seinen Träumen zu mir sprach.
Dann erlosch die Schwärze, so übergangslos, wie sie mich ergriffen hatte. Plötzlich spürte ich meinen Körper wieder, und als ich die Augen öffnete, stach helles Sonnenlicht in meine Netzhäute und ließ mich blinzeln.
Vorsichtig setzte ich mich auf. Ich befand mich in einem heruntergekommenen, baufälligen Raum, dessen eine Seite nur noch aus modrigen Brettern bestand. Die Fenster waren zerbrochen und ließen das flirrende Licht der Morgensonne herein, und die Luft roch nach Verfall und Tod.
Als ich mich bewegte, gab eines der Fußbodenbretter nach und brach. Die Erschütterung ließ Steine aus der Wand und Kalk von der Decke brechen. Staub wallte in grauen, zum Husten reizenden Wolken auf.
Aber ich erkannte, wo ich mich befand. Es war der Salon in dem Haus in der Van Dengsterstraat, der Raum, in dem der Alptraum begonnen hatte. Und in dem er enden würde.
Während ich aufstand und mit vorsichtigen Schritten zur Tür ging, begann das Haus hinter mir und über mir zu zerbrechen. Ächzend neigten sich die altersschwachen Balken und Wände, Steine kollerten, und ich hatte kaum das Gebäude verlassen und den Fuß der plötzlich zerborstenen Marmortreppe erreicht, als der gesamte Dachstuhl sich zu neigen begann und dann krachend und polternd zusammenstürzte.
Ich begann zu rennen, so verzweifelt und schnell wie noch niemals zuvor in meinem Leben, während rings um mich herum ein tiefes, beinahe schmerzhaft klingendes Stöhnen durch die Häuser ging, sich Wände neigten und Zwischenböden und Dächer krachend zusammenstürzten.
Das Labyrinth starb. Und mit ihm zerfielen die Häuser, starben die Gebäude, deren Verfall es seit Jahrzehnten mit einer finsteren Macht aufgehalten hatte.
Als ich das Ende der Gasse erreichte und keuchend am Ufer der schmalen, schlammigen Gracht stehenblieb, war die Van Dengsterstraat zu einer Trümmerlandschaft geworden.
Aber ich empfand keine wirkliche Befriedigung bei dem Anblick. Es gab etwas, das sich wie mit glühenden Lettern in meine Erinnerung gebrannt hatte und jeden anderen Gedanken, jedes andere Gefühl vertrieb.
Die Stimme. Cthulhus Stimme. Ich würde ihren Klang niemals wieder vergessen. So wenig, wie die letzten Worte, die er zu mir gesagt hatte, kurz, bevor sich das Tor schloß und mich zurück in die Wirklichkeit spie:
»Für diesmal sollst du davonkommen, Robert Craven, denn du hast uns einen Dienst erwiesen, hatte er gesagt. Doch ich warne dich. Kreuzen sich unsere Wege noch ein einziges Mal, vernichte ich dich, denn auch meine Großzügigkeit hat Grenzen. Mische dich nie wieder in unsere Angelegenheiten.