Und plötzlich begriff Sarim de Laurec, was er da beobachtete.
Die grauen Wirbel waren Tore.
Was er sah, war das Entstehen der gefürchteten Tore der GROSSEN ALTEN, jener unbegreiflichen Verbindungen zwischen den Dimensionen, über die das Kristallgehirn herrschte!
De Laurec keuchte vor Schrecken, als er sah, wie sich Dutzende der faustgroßen grauen Gebilde zu zwei, drei mannshohen grauen Nebelflecken zusammenschlossen. Plötzlich waren sie nicht mehr leer, sondern von wogender Bewegung erfüllt. Dann bildeten sich Dinge im Inneren der Tore, Dinge von namenlos schrecklichem Aussehen - graue, miteinander verwobene Arme, schreckliche Fratzen mit zu vielen Augen und falschen Farben ...
Und es war noch nicht vorbei.
Plötzlich ertönte ein scharfer, peitschender Knall - und aus einem der Tore zuckte ein oberschenkelstarker, grünlicher Fangarm, tastete einen Moment blind hin und her und bewegte sich dann zielstrebig auf Bruder Balestrano zu. Der Krakenarm erreichte die erstarrte Gestalt des greisen Tempelritters, wickelte sich in einer fast spielerisch erscheinenden Bewegung um seine Schultern - und begann, ihn langsam aber unbarmherzig auf das pulsierende Tor zuzuzerren!
De Laurec schrie auf, warf sich nach vorne und riß verzweifelt an dem grüngrauen Strang. Aber seine Anstrengungen waren vergeblich. So schleimig und nachgiebig der Tentakel aussah, war seine Haut hart wie Stahl, und seine Kraft die eines Giganten.
Erneut erscholl dieser peitschende, schreckliche Laut, und ein zweiter Tentakel ringelte sich aus einem der Tore, packte einen weiteren Templer und begann ihn auf den Dimensionsriß zuzuziehen. Und kaum eine Sekunde später griff auch aus dem dritten Tor einer der schrecklichen Krakenarme heraus. Für eine Sekunde glaubte de Laurec ein fürchterliches, unmenschliches Lachen zu hören.
Verzweifelt fuhr der Tempelritter herum. Seine Gedanken überschlugen sich. Balestrano hatte das Tor fast erreicht. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis er in dem grauen Wogen verschwunden war!
De Laurec dachte in diesem Moment nicht mehr, sondern handelte rein instinktiv. Mit einem gellenden Schrei riß er das Zeremonienschwert aus dem Gürtel, schwang die Waffe mit beiden Händen hoch über den Kopf - und ließ die Klinge mit aller Macht auf das Kristallgehirn heruntersausen!
Es war ein Gefühl, als hätte er auf Stahl geschlagen. Der Hieb prellte ihm das Schwert aus der Hand und zuckte als vibrierender Schmerz bis in seine Schultern hinauf; die Klinge flog davon und zerbrach noch in der Luft, und das höhnische Lachen, das de Laurec gerade noch gehört hatte, verwandelte sich urplötzlich in ein panikerfülltes, zorniges Kreischen.
Ein greller Blitz zerriß das gehirnähnliche Kristallgebilde. De Laurec sah noch, wie die peitschenden Krakenarme verblaßten und sich die Tore wie zuckende Wunden schlossen. Dann traf ihn ein Splitter des Kristallhirnes an der Schläfe, und er verlor das Bewußtsein.
Vor dem Fenster des Eisenbahnabteils zog die Landschaft vorbei, grau und schaukelnd und halb verborgen hinter niedrig hängenden Regenwolken, aus denen es schon seit dem frühen Morgen wie aus Eimern goß. Obwohl das Erste-Klasse-Abteil geheizt war, glaubte ich die Kälte zu fühlen, die wie ein klammer Hauch über dem Land lag und dem Sommer, der dem Kalender nach schon vor über einem Monat Einzug gehalten hatte, eine lange Nase drehte.
Seit meiner Abreise aus Amsterdam war das Wetter beständig schlechter geworden. Es regnete ununterbrochen und die Temperaturen schienen mit jeder Meile, der ich mich Paris näherte, zu sinken. Es hätte mich nicht verwundert, die Seine-stadt unter Eis und Schnee vorzufinden.
Mißmutig wandte ich mich vom Fenster ab, blickte einen Moment auf die zerlesene englische Zeitung mit dem Datum vom 23. Juli 1885, die auf dem freien Platz neben mir lag, und ließ mich zurücksinken. Ich hatte sie vor meiner Abreise in Amsterdam erstanden und kannte sie auswendig. Ich hatte mich dafür entschlossen, mit der Bahn nach Paris zu reisen, wo ich Howard zu treffen hoffte. Es gab bequemere Arten des Reisens, auch komfortablere - aber kaum eine schnellere. Und im Moment war Zeit das, was ich am allerwenigsten hatte. Es war nicht mehr weit bis Paris - nicht einmal mehr achtzig Minuten, hatte der Schaffner gesagt -, aber nach zwanzig Stunden, die ich nahezu ununterbrochen unterwegs gewesen war, erschien mir selbst diese kurze Spanne wie eine Ewigkeit.
Paris ... Ich wiederholte den Namen ein paarmal in Gedanken und versuchte vergeblich, ihm etwas von dem geheimnisvollen Flair abzugewinnen, das man der Stadt an den Ufern der Seine nachsagte. Für mich hatte dieser Name eher einen düsteren Klang. Bestenfalls würde ich Howard dort wiederfinden und gleich ein halbes Dutzend Wunder bewirken müssen, um ihn vor einer Riesendummheit zu bewahren, und schlimmstenfalls ...
Ich verscheuchte den Gedanken, schloß die Augen und versuchte zu schlafen, was natürlich mißlang. Nicht, daß ich nicht müde gewesen wäre; im Gegenteil. Aber wer einmal mit der französischen Eisenbahn gefahren ist, weiß, wovon ich spreche. Die Eisenbahngesellschaft wirbt auf ihren Plakaten mit der Bequemlichkeit und Schnelligkeit ihrer Züge. Was das Tempo angeht, hat sie sicherlich recht. Aber die Bequemlichkeit? Der Marquis de Sade hätte seine helle Freude an diesem Beförderungsmittel gehabt.
Der Zug wurde langsamer. Ein schriller, mißtönender Pfiff ertönte von der Lokomotive her, dann griffen die Bremsen mit einem Geräusch, als kratze eine Gabel über den Kochtopfboden. Der Zug verlangsamte weiter und hielt mit einem letzten, magenumstülpenden Ruck vor einem einstöckigen Bahnhofsgebäude.
Neugierig beugte ich mich vor und spähte aus dem Fenster. Das schlechte Wetter schien den Leuten hier auch die Lust am Bahnfahren vergällt zu haben, denn der Bahnsteig war nahezu leer; nur ein ältliches Ehepaar und ein schlanker, mittelgroßer Mann unbestimmbaren Alters standen frierend neben den Geleisen. Das Ehepaar verschwand irgendwo im hinteren Teil des Zuges, wo die Wagen der zweiten und dritten Klasse waren, während der Mann einen Moment lang unschlüssig stehenblieb, sich plötzlich mit einem Ruck umwandte und zielstrebig auf mein Abteil zusteuerte. Ein Schwall eisiger Luft und Feuchtigkeit drangen herein, als er die Tür öffnete.
Ich nickte ihm zu, wie es die Höflichkeit verlangt, wenn man einen Fremden während einer Bahnfahrt trifft, und wollte ebenso höflich den Blick wieder abwenden - aber dann fiel mir irgend etwas an ihm auf. Ich konnte nicht sagen, was es war, aber irgend etwas an ihm war sonderbar. Ich vermochte den Gedanken nicht gleich zu fassen, aber irgendwo hinter meiner Stirn begann eine schrille Alarmglocke anzuschlagen, als der Mann mit seltsam eckigen Bewegungen in das Abteil kletterte und die Tür hinter sich schloß.
Dann wußte ich, was es war.
Er war zu schwer. Die Bodenbretter ächzten unter seinem Gewicht, als hätte er Blei gefrühstückt, und die Wucht, mit der er die Zugtür schloß, ließ das Glas klirren, obwohl die Bewegung eher langsam war. Instinktiv richtete ich mich ein wenig im Sitz auf und musterte ihn genauer.
Der Mann drehte sich herum, erwiderte meinen Blick für die Dauer eines Atemzugs mit steinernem Gesicht und ließ sich in den Sitz genau mir gegenüber fallen. Die Bank zitterte wie unter einem Hammerschlag. Ich glaubte die Sprungfedern in den Polstern unter seinem Gewicht ächzen zu hören. Er mußte der schwerste Mann sein, dem ich jemals begegnet war. Dabei war er nicht einmal so groß wie ich und sogar noch eine Spur schlanker.
Plötzlich wurde ich mir der Tatsache bewußt, daß ich den Fremden noch immer unverwandt anstarrte, lächelte entschuldigend und wandte hastig den Blick ab. Mein Gegenüber war nicht ganz so höflich - er starrte mich weiter mit unbewegtem Gesicht an, und obwohl ich mich fast krampfhaft bemühte, nicht in seine Richtung zu sehen, spürte ich seinen Blick mit fast unangenehmer Deutlichkeit.