Von draußen ertönte wieder der schrille Pfiff der Lokomotive. Ein erster, noch sanfter Ruck ging durch den Zug, dann faßten die Räder, und der Zug fuhr an.
Als ich wieder aufblickte, starrte mich der Fremde noch immer an. Diesmal hielt ich seinem Blick stand; wenn auch nicht sehr lange. Der Blick seiner grauen, blitzenden Augen war ... unangenehm. Sie sahen gar nicht aus wie lebende Augen, sondern wirkten vielmehr wie buntbemalte Glaskugeln, und die Härte, die ich darin las, ließ mich schaudern.
Schließlich senkte ich ein zweites Mal den Blick, griff nach der Zeitung neben mir und tat so, als lese ich. Aber ich spürte seinen Blick weiter.
Schließlich wurde es mir zu bunt. Mit einer Geste, die selbst dem dümmsten Trottel klargemacht hätte, daß meine Geduld am Ende war, senkte ich die Zeitung und blickte mein Gegenüber feindselig an. »Excusezmoi, Monsieur«, begann ich, wurde aber sofort von dem Fremden unterbrochen.
»Sie können ruhig Englisch sprechen, Mister«, sagte er und entblößte dabei ein wölfisches Gebiß, das wie poliertes Silber blitzte. »Das erleichtert die Sache. Ich spreche Ihre Sprache.«
Ich nickte überrascht. Meine Französischkenntnisse waren mit den beiden Worten, die ich gesagt hatte, in der Tat so gut wie erschöpft, aber der hochmütige Ton, in dem der Bursche sprach, brachte irgend etwas in mir zum Kochen. Er war nicht einmal aggressiv - aber er sprach mit einer Kälte, als wäre sein Stimmapparat aus dem gleichen Stahl, aus dem sein unappetitliches Gebiß bestand. Trotzdem schluckte ich die scharfe Erwiderung herunter, bedachte die Silberzähne meines Gegenübers mit einem bewußt angewiderten Blick und fragte: »Woher wissen Sie, daß ich Engländer bin?«
»Sie lesen eine englische Zeitung«, antwortete er.
»Scharf beobachtet.«
»Nicht besonders«, sagte der Fremde. »Es fällt auf, wenn jemand in Frankreich eine englische Zeitung liest. Ich bin nicht dumm.«
Diesmal kostete es mich wirklich meine ganze Selbstbeherrschung, ihm nicht die Antwort zu geben, die er verdiente.
Wütend faltete ich die Zeitung ganz auseinander, lehnte mich in die Polster zurück und hielt das Blatt vor das Gesicht, um wenigstens seinem unangenehmen Blick entzogen zu sein.
Aber mein eisenzähniger Mitreisender gab nicht so leicht auf. Zwei, vielleicht drei Minuten lang spürte ich seine bohrenden Blicke durch das Papier der Zeitung hindurch, dann räusperte er sich so lautstark, daß ich unwillkürlich die Zeitung sinken ließ und ihn ansah.
»Bis Paris kommt jetzt keine Haltestelle mehr«, sagte er.
»Und?«
»Nichts, und.« Er zuckte mit den Achseln und grinste. Dabei sah ich, daß seine Zähne wirklich aus Eisen waren. Nun ja, das war sein Problem. Paris war schließlich nicht nur eine Stadt der High-Society, sondern auch der Sonderlinge - um nicht zu sagen, Spinner. Und vermutlich kam ich ihm mit meiner weißen Strähne im Haar genauso verrückt vor wie er mir. Ich seufzte und verkroch mich wieder hinter meiner Zeitung.
»Es ist praktisch, daß wir nicht mehr halten«, sagte Eisenzahn kalt. Eigentlich sprach er gar nicht wie ein Mensch, sondern zählte Tatsachen auf. Kalt, sachlich und ohne die geringste Spur irgendeines Gefühles. »Dann kann mich wenigstens niemand stören.«
»Wobei?« fragte ich in bewußt gelangweiltem Ton.
Diesmal antwortete er nicht - worüber ich nicht sonderlich böse war -, aber nach ein paar Sekunden hörte ich die Sitzpolster quietschen; dann schien das ganze Abteil zu erbeben, als er aufstand und mit einem schwerfälligen Schritt auf mich zutrat.
Vollends am Ende meiner Geduld angelangt, ließ ich die Zeitung sinken, starrte wütend zu ihm empor - und erstarrte.
Eisenzahn stand breitbeinig vor mir. Seine Hände waren halb erhoben und geöffnet, als wollte er mich packen. Sein Gesicht war noch immer so reglos wie eine Wachsmaske, aber in seinen Augen war plötzlich ein Glanz, der mich schaudern ließ.
»Was soll das?« fragte ich. »Was haben Sie vor?«
»Was soll ich schon vorhaben, Craven«, sagte Eisenzahn. »Ich bringe Sie um - was denn sonst?«
Und dann geschah alles gleichzeitig.
Seine Hände zuckten nach meinem Hals. Die Finger waren wie tödliche Krallen gekrümmt. Im gleichen Augenblick stieß sein Knie hoch und versuchte, mich zwischen die Oberschenkel zu treffen.
Dem Kniestoß wich im letzten Moment durch eine blitzartige Drehung aus; seinen Händen nicht mehr.
Die Krallen verfehlten zwar meine Kehle, aber seine Linke fuhr wie eine stählerne Forke neben mir in das Sitzpolster und zerfetzte es, während sich die Finger seiner Rechten in meine Schulter gruben und zudrückten, daß ich glaubte, meine Knochen knirschen zu hören. Ich schrie auf, warf mich im Sitz zur Seite und schlug ihm gleichzeitig die Faust gegen das Kinn.
Ein Hieb gegen massiven Fels hätte kaum weniger Erfolg gezeigt. Ein greller Schmerz explodierte in meiner Hand und ließ mich erneut aufschreien, während Eisenzahns Gesicht nicht einmal zuckte. Mit einem wütenden Ruck zerrte er mich herum.
Verzweifelt bäumte ich mich auf, warf mich gleichzeitig zur Seite und nach vorne und versuchte, seinen Griff zu sprengen. Aber der Bursche war stark wie ein Elefant. Und er schien immun gegen jegliche Art von Schmerz zu sein. Seine Rechte umklammerte noch immer meine Schulter und schien sie zermalmen zu wollen, und die wütenden Hiebe, die ich immer wieder gegen sein Gesicht und seinen Hals abschoß, schien er nicht einmal zu spüren.
Er gab sich nicht einmal die Mühe, meine Schläge abzuwehren. Sein Kinn war voller Blut, aber es war mein Blut, das aus meinen aufgeplatzten Knöcheln quoll, und als ich mich herumwarf und ihm das Knie gegen den Leib schmetterte, zuckte er noch nicht einmal.
Dafür löste er endlich die Linke aus den zerfetzten Polstern, ballte sie zur Faust - und schlug mit aller Macht nach meinem Gesicht.
Im letzten Moment drehte ich den Kopf beiseite. Seine Faust streifte meine Schläfe und zerschmetterte die Abteilwand.
Die Berührung ließ meinen Schädel wie eine angeschlagene Glocke dröhnen. Rot flammende Kreise tauchten vor meinen Augen auf und trübten meinen Blick, und für eine schrecklich lange Sekunde drohte mir, das Bewußtsein zu verlieren.
Eisenzahn riß mich wie eine Puppe in die Höhe, schleuderte mich in die Polster zurück und hob die Faust zum letzten, entscheidenden Hieb. Ich wußte, daß ich sterben würde, würden mich seine schrecklichen Fäuste auch nur ein einziges Mal mit aller Kraft treffen.
Ein harter, plötzlicher Ruck ging durch den Boden, als der Zug über eine Weiche hüpfte und sich die Erschütterung über die ungefederten Achsen bis in die Abteile fortpflanzte. Ich spürte es kaum, denn ich lag halb ausgestreckt und hilflos auf der Sitzbank, aber Eisenzahn, der mit leicht gespreizten Beinen über mir stand, wankte wie eine angeschlagene Statue und drohte für einen Moment nach vorne zu kippen.
Ich reagierte, ohne zu denken. Im gleichen Moment, in dem er seinen Sturz abzufangen versuchte, zog ich die Knie an den Körper, raffte das letzte bißchen Kraft, das mir geblieben war, zusammen - und trat ihm mit aller Gewalt vor den Bauch.
Es war wie vorhin, als ich nach seinem Kinn geschlagen hatte - der Bursche mußte Betonplatten unter der Kleidung tragen, denn ich hatte das Gefühl, vor einen Felsen getreten zu haben. Ein gräßlicher Schmerz zuckte bis in meinen Rücken hinauf und drohte ein zweites Mal, mir das Bewußtsein zu rauben.
Aber ich sah immerhin, wie Eisenzahn wie ein gefällter Baum nach hinten kippte, in der gleichen, grotesken Haltung, in der er über mir gestanden hatte - die Arme ausgestreckt und die Hände halb geöffnet - auf die gegenüberliegende Sitzbank fiel und das Möbelstück mit seinem ungeheuren Gewicht kurzerhand zerschmetterte.
Als er sich aus den Trümmern der Bank zu befreien versuchte, war ich über ihm. Seine Hand griff nach mir, aber ich wich ihr aus, warf mich mit meinem ganzen Körpergewicht auf ihn und schlug ihm drei-, vier-, fünfmal hintereinander die Handkante gegen den Hals. Schon ein einziger dieser Hiebe hätte gereicht, selbst einen Giganten wie Rowlf zu betäuben - aber Eisenzahn schien sie nicht einmal zu spüren!