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Ich vergaß meine Furcht, spannte die Muskeln - und stieß mich ab.

Es war leichter, als ich gefürchtet hatte. Der Wagen schien mir noch entgegenzukommen. Ich kam ungeschickt auf, fiel auf die Knie, fing den Sturz mit beiden Händen auf und stieß mich wie ein Hundert-Meter-Läufer am Start ab. Verzweifelt rannte ich los, während Eisenzahn mir auf die gleiche Weise folgte, zwar wenig elegant, dafür aber erheblich lauter.

Es war aussichtslos. Ich rannte, so schnell es der schwankende Untergrund zuließ, sprang von Wagendach zu Wagendach und vergrößerte die Entfernung zwischen mir und meinem unheimlichen Verfolger allmählich.

Schließlich hatte ich das Ende des Zuges beinahe erreicht und blieb unsicher stehen. Vor mir lag ein letzter Wagen - und dann nichts mehr. Es sah aus, als wäre meine Flucht zu Ende, ehe sie richtig begonnen hatte. Verzweifelt drehte ich mich herum, tastete nach dem Stockdegen unter meinem Gürtel und blickte meinem Gegner mit einer Mischung aus Entsetzen und trotzigem Zorn entgegen. Ich wußte weder, wer der Bursche war, noch was er von mir wollte - aber ich würde mein Leben so teuer wie möglich verkaufen.

Dann sah ich den Schatten am vorderen Ende des Zuges, noch weit vor der Lokomotive. Ein verzweifelter Plan begann hinter meiner Stirn Gestalt anzunehmen. Hätte ich Zeit gehabt, ihn in allen Einzelheiten zu durchdenken, hätte ich es vermutlich zehnmal lieber auf einen Kampf mit dem Unheimlichen ankommen lassen - aber gottlob blieb mir keine Zeit.

So wandte ich mich noch einmal um, sprang auf den letzten Wagen und wirbelte abermals herum, kaum daß ich sicheren Stand gefunden hatte. Der Stockdegen glitt wie von selbst aus seiner Umhüllung und funkelte wie ein gefangener Blitz in meiner Hand. Der Schatten erreichte die Lokomotive und jagte über sie hinweg. Noch zwei Sekunden, schätzte ich. Allerhöchstens.

Eisenzahn blieb stehen, kaum einen Schritt vom Ende des Wagendaches entfernt. Seine kalten Glasaugen musterten die Waffe in meiner Hand, und für einen Moment zögerte er, als schätze er ihre Gefährlichkeit ab. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung, spannte sich - und sprang.

Ich ließ mich zur Seite fallen, schloß die Augen - und stürzte mit angehaltenem Atem vom Wagendach herunter. Was dann geschah, ging so unglaublich schnell, daß ich selbst hinterher nicht sicher war, es wirklich gesehen oder mir nur eingebildet zu haben.

Der Boden raste auf mich zu. Eisenzahn landete wie ein lebender Amboß auf dem Dach und beulte es ein, fand mit wild wedelnden Armen sein Gleichgewicht wieder. Sein Stahlgebiß blitzte.

Aber nur für eine halbe Sekunde.

Hinter ihm jagte der Schatten heran. Die Lokomotive stieß einen schrillen Pfiff aus, dann fiel der Schatten der Brücke direkt über unseren Wagen. Eisenzahn versuchte noch zu reagieren, wirbelte mit übermenschlicher Schnelligkeit herum und duckte sich gleichzeitig. Aber obwohl er sich mindestens doppelt so schnell bewegte wie ein normaler Mensch, hatte er die Drehung nicht einmal halb beendet, als der Zug unter der Brücke hindurchdonnerte.

Es war eine sehr niedrige Brücke.

So niedrig, wie ich gehofft hatte. Sogar noch ein bißchen niedriger ...

»Pardon, Monsieur - wie war doch gleich Ihr Name?« Der livrierte Lakai, der nach dem dritten Klopfen unter der Tür des Hauses in der Rue de Gascogne No. 17 erschienen war und den beiden sonderbaren Besuchern den Einlaß verwehrte, legte demonstrativ seine Stirn in Falten. »Oh-ahr?«

»Howard«, sagte der Ältere der beiden, ein hagerer, eher konservativ gekleideter Gentleman mit scharfgeschnittenen Zügen, der ein erbärmlich stinkendes Zigarillo rauchte und mit der anderen Hand mit einem Stockschirm spielte. »Howard Phillips Lovecraft, um genau zu sein. Aber Howard dürfte genügen. Wenn Sie mich jetzt bitte Monsieur Benoit melden würden?«

Der Lakai hob in einer abwehrenden Geste die Hand. »Ich fürchte, Sie unterliegen einem bedauernswerten Irrtum, Monsieur«, sagte er und warf Howards Begleiter, einem bulligen, vierschrötigen Kerl mit der Gestalt eines Preisboxers samt der dazu passenden breitgeschlagenen Nase, einen fast ängstlichen Blick zu.

»Hier wohnt kein Monsieur Benoit«, fuhr er hastig fort. »Dies ist das Stadthaus von Monsieur Guy de Mortignac. Von einem Monsieur - äh ... Benoit habe ich noch nie gehört. Vielleicht war es der Vorbesitzer des Hauses.«

»Un seit wann wohnta hier, dieser Monsö Moritkack?« erkundigte sich Howards Begleiter in einem Französisch, das noch zerschlagener wirkte als sein Gesicht. »Vielleicht holnsen ma her. Kann ja sein, dasser was übba Bennoa weiß.«

Der Lakai erbleichte, schien aber nach einem weiteren Blick auf Rowlfs schaufelgroße Hände zu der Ansicht zu kommen, daß es besser wäre, die Beleidigung zu überhören. »Ich fürchte, auch das wird nicht möglich sein, Monsieur«, erwiderte er steif. »Die Herrschaften sind auf ihr Landgut gefahren - und ich weiß nicht, wann sie wiederkommen«, fügte er hastig hinzu.

Rowlf setzte zu einer wütenden Entgegnung an, aber Howard legte ihm rasch und beruhigend die Hand auf den Unterarm. »Laß gut sein, Rowlf«, sagte er und fügte an den Lakai gewandt hinzu: »Bitte entschuldigen Sie die Störung, mein Freund. Vielleicht habe ich mich wirklich in der Hausnummer getäuscht. Es ist lange her, daß ich in Paris war. Au revoir.«

»Au revoir, Monsieur.« Verwirrt blickte der Lakai den beiden Männern nach, die auf dem Absatz kehrtmachten und auf die um diese Tageszeit beinahe leere Rue de Gascogne hinaustraten. Von hinten boten ihre so ungleichen Gestalten - der eine ein Kleiderschrank von einem Mann, der andere eine wahre Bohnenstange - einen fast komischen Anblick. Der Lakai begann sich zu fragen, warum er sich jemals vor diesen beiden gefürchtet hatte. Aber als er mit einem Kopfschütteln die schwere, reich verzierte Eichentür wieder schloß, überlief ihn ein merkwürdiger Schauer, der auch nicht vergehen wollte, nachdem er sich ausgiebig an dem Likörkabinett seiner Herrschaften bedient hatte.

Die beiden Männer, das spürte er, waren der Verzweiflung nahe gewesen. Und Verzweifelte taten oft Dinge, die irrational und gefährlich waren.

»Die wievielte Adresse war das?«

Rowlfs grollende Stimme riß Howard Lovecraft aus seinen düsteren Gedanken. Sie waren von der Rue de Gascogne abgebogen und promenierten nun die belebtere Rue de Rivoli entlang. Junge, vorwiegend weiß gekleidete Damen an den Armen ihrer Kavaliere, Kinder in blauen Matrosenanzügen und zartrosa gerüschten Kleidchen, die vornehm herausgeputzt zwischen ihren Eltern von Auslage zu Auslage der teuren Geschäfte stolzierten - es war ein Treiben, das das Herz eines jeden Flaneurs höher schlagen lassen mußte. Nur Rowlf und er schienen nicht so recht hierher zu passen. Sie waren zu düster für dieses heitere Treiben, zwei schwarze Farbtupfer in diesem hellen Gemisch aus Licht, Luft und den schwerelosen Farben des Sommers.

Aber schließlich war Howard nicht nach Paris gekommen, um den Sommer in dieser ungekrönten Hauptstadt der zivilisierten Welt zu genießen. Er war gekommen, weil er sich einem Gericht stellen wollte, dessen Schergen ihn von Kontinent zu Kontinent verfolgt und zu töten versucht hatten. Aber jetzt, da er an den Ort seiner Aburteilung zurückgekehrt war, wollten sie offensichtlich nichts mehr von ihm wissen.

Seufzend zündete er sich ein neues Zigarillo an dem alten, fast bis zu den nikotin- und teerverfärbten Fingern heruntergebrannten Stummel an. Er inhalierte tief, bis sein Kopf von einer bläulichen, übelriechenden Wolke eingehüllt war. »Ich verstehe das einfach nicht mehr, Rowlf«, sagte er. »Seit einer Woche klappern wir jetzt alle alten Kontaktadressen ab, und überall scheint plötzlich eine Mauer zu sein. ›Nie gehört, den Namen.‹ ›Nein, der ist unbekannt verzogen.‹ ›Monsieur Lasalle? Nein, den gibt es hier nicht, und ich wohne seit zehn Jahren hier.‹ - Es ist zum Verrücktwerden!«